Anfechtung nichtiger Rechtsgeschäfte, Kipp’sche Lehre zu „Doppelwirkungen im Recht“
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Sachverhalt
Der 16-jährige M verkauft K seinen Motorroller. Dabei gibt M eine zu niedrige Laufleistung an, um einen höheren Preis zu erzielen. Die Eltern des M sind mit alledem nicht einverstanden. K möchte zudem anfechten, als er von der Täuschung erfährt.
Falllösung
1. Ist zwischen M und K ein wirksamer Kaufvertrag zustande gekommen (§ 433 BGB)?
Nein!
M ist als 16-Jähriger beschränkt geschäftsfähig (§§ 2, 106 BGB). Wirksame Willenserklärungen kann er nur abgeben, wenn (1) diese lediglich rechtlich vorteilhaft (oder neutral) sind (§ 107 BGB), (2) die gesetzlichen Vertreter zustimmen (§§ 107, 108 BGB), (3) er die Leistung mit eigenen Mitteln bewirkt (§ 110) oder (4) §§ 112, 113 BGB erfüllt sind.
Der Abschluss des Kaufvertrags ist für M nicht lediglich rechtlich vorteilhaft, weil er ihn zur Übergabe und Übereignung des Motorrollers verpflichtet. Die Eltern des M (gesetzliche Vertreter, § 1629 BGB) haben auch nicht eingewilligt oder genehmigt. Die Willenserklärung des M ist unwirksam.
2. Kann K den Kaufvertrag wegen arglistiger Täuschung anfechten?
Ja!
Grundsätzlich könnte man die Anfechtung eines bereits nichtigen (d.h. nicht-existenten) Rechtsgeschäfts anzweifeln. Nach der Kipp’schen Lehre von der Doppelnichtigkeit können aber auch nichtige Rechtsgeschäfte angefochten oder widerrufen werden. Ein Grund hierfür ist, dass Anfechtung und Widerruf regelmäßig leichter zu beweisen sind, als die Nichtigkeit (prozessualer Grund für die Anfechtbarkeit). Ein weiterer Grund ist, dass die Anfechtung weitergehende Rechtsfolge als die Nichtigkeit haben kann, insb. bei der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung eines nichtigen Vertrages (etwa wenn sich der Bereicherte auf Entreicherung beruft, § 818 Abs. 3 BGB) (materieller Zweck).
K kann den bereits nichtigen Kaufvertrag anfechten.