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Schutz der Kommunen vor der Zuweisung von Aufgaben durch den Bund – mit Prof. Christian Waldhoff

Jurafuchs Podcast #004 |Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen im föderalen Bundesstaat | BVerfG, Beschluss vom 07.07.2020 - 2 BvR 696/12

Zusammenfassung

Das Verhältnis von Bund, Ländern und Kommunen im föderalen Bundesstaat gehört zum Kompliziertesten, was das Grundgesetz zu bieten hat. Nicht umsonst ist die Aufgaben- und Kompetenzverteilung und die damit verbundene Kostenlast oft Zankapfel im föderalen Gefüge. 

So lag es auch im Fall, der Grundlage der heutigen Folge ist: Mit dem sogenannten Kommunalen Bildungspaket hatte der Bund den kreisfreien Städten und Landkreisen als Trägern der Sozialhilfe zusätzliche Aufgaben zugewiesen. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts verstößt diese Aufgabenübertragung gegen das sogenannte Durchgriffsverbot (Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG) und verletzt die kommunale Selbstverwaltungsgarantie (Art. 28 Abs. 2 GG) (BVerfG, Beschluss vom 07.07.2020 - 2 BvR 696/12).

Professor Christian Waldhoff, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Finanzrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin, nimmt diesen etwas sperrigen Fall zum Anlass, das komplexe Geflecht von Gesetzgebung, Vollziehung und Finanzierung von Staatsaufgaben im deutschen Föderalismus verständlich und transparent zu machen. Er legt dar, welche Rolle den Kommunen im Staatsgefüge zukommt, wer die Kosten für welche Aufgaben trägt und warum ein Verständnis des vorliegenden Falles entscheidend ist für weitere Kompetenzkonflikte - etwa beim Umgang mit Herausforderungen der Corona-Pandemie.

Interview (Transkript)

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Willkommen bei Spruchreif! Dem Rechtsprechungspodcast von Jurafuchs. In Kooperation mit dem Nomos Verlag. Mein Name ist Wendelin Neubert, und zusammen mit meinen Gästen gehe ich dem Kontext und den Hintergründen aktueller Gerichtsentscheidungen auf die Spur. 

PROF. CHRISTIAN WALDHOFF: Der Grundpunkt, den man einmal verstehen und sich klarmachen muss, um den deutschen Föderalismus zu verstehen, ist, dass die Zuständigkeiten, die Kompetenzen, nach Staatsfunktionen unterschiedlich aufgeteilt werden. Staatsfunktionen sind: Gesetzgebung, Vollziehung, Rechtsprechung auch, aber die interessiert hier nicht, und Finanzierung. Städte und Gemeinden und Landkreise genießen nach dem Grundgesetz einen besonderen Schutz. Wenn die Gemeinden zu viele Fremdaufgaben durch Bund oder Land zugewiesen bekommen, schrumpft ihr Spielraum für den eigentlichen Kernbereich von Selbstverwaltungsaufgaben. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Mein Gast ist Professor Christian Waldhoff. Professor Waldhoff ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Finanzrecht an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Darüber hinaus ist Professor Waldhoff unter anderem Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen. Seien Sie herzlich willkommen!

PROF. CHRISTIAN WALDHOFF: Guten Tag, Herr Neubert!

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wir sprechen über die Frage, in welchen Grenzen der Bund Aufgaben auf die Kommunen übertragen darf. Anlass ist der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Juli 2020 zum sogenannten Kommunalen Bildungspaket. Dabei handelt es sich um Regelungen des Sozialgesetzbuches zwölf, durch die die kreisfreien Städte und Landkreise als Träger der Sozialhilfe dazu verpflichtet werden, sozial schwachen Familien bestimmte Leistungen zu gewähren. Diese Regelung hat das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung überwiegend für verfassungswidrig erklärt. Vor diesem Hintergrund wollen wir der Frage nachgehen, wie die Wahrnehmung und Finanzierung staatlicher Aufgaben im föderalen Gefüge der Bundesrepublik Deutschland ausgestaltet ist und welche Rolle hierbei der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie zukommt. Lieber Herr Professor Waldhoff, könnten Sie zum Einstieg in die Problematik bitte einmal das System der Zuständigkeiten bei der Wahrnehmung staatlicher Aufgaben im föderalen Gefüge skizzieren für uns? 

PROF. CHRISTIAN WALDHOFF: Ja, das kann ich sehr gern machen. Ich fange mal mit dem ganz großen Charakteristikum der deutschen Bundesstaatlichkeit, des deutschen Föderalismus an, weil das sozusagen die Basis von den ganzen Folgeproblemen, über die wir hier sprechen wollen, darstellt. Und das wird mit den Schlagworten vom Exekutiv- oder Vollzugsföderalismus umrissen. Exekutiv- oder Vollzugsföderalismus bedeutet, der Schwerpunkt der Gesetzgebungstätigkeit liegt eindeutig beim Bund, also die Gesetzgebungszuständigkeit, Artikel 70 folgende Grundgesetz, da liegt fast alles Wichtige beim Bund, auf Bundesebene. Während der ganz große Schwerpunkt der Vollzugszuständigkeit, der Verwaltungskompetenzen, also Artikel 83 folgende Grundgesetz, bei den Ländern liegt. Das heißt, anders ausgedrückt, Gesetzgebungszuständigkeit und Vollzugszuständigkeit fallen in Deutschland, im deutschen Bundesstaat, im Regelfall auseinander. Und dann gibt es noch eine andere Ebene, die auch eine Rolle spielt, nämlich die Finanzverfassung, die ja auch zur Bundesstaatlichkeit gehört, und die ist noch mal eigens geregelt, da gibt es ja einen eigenen Abschnitt im Grundgesetz, den Abschnitt 10, Artikel 104a folgende, und das ist noch mal eigenständig geregelt. Das heißt, der Grundpunkt, den man einmal verstehen muss und sich klarmachen muss, um den deutschen Föderalismus zu verstehen, ist, dass die Zuständigkeiten, die Kompetenzen, nach Staatsfunktionen unterschiedlich aufgeteilt werden. Staatsfunktionen sind: Gesetzgebung, Vollziehung, Rechtsprechung auch, aber die interessiert hier nicht, und Finanzierung. Das sind sozusagen Scheiben, die ganze Staatstätigkeit wird in Scheiben geschnitten, die dann unterschiedlich sich überlappen oder auch nicht überlappen. Und das große Gegenmodell ist zum Beispiel in den USA verwirklicht, das ist ja auch ein Bundesstaat, der älteste überhaupt weltweit, 1787, dort werden die Zuständigkeiten nicht nach diesen Staatsfunktionen unterschiedlich zwischen Federal und State, also Zentralstaat und Gliedstaat aufgeteilt, sondern eine Sachmaterie ist entweder bei den Gliedstaaten, bei den States, oder Federal-Ebene, beim Bund. Und die machen dann alles: Gesetzgebung, Vollziehung, Rechtsprechung und Finanzierung. Aber das deutsche Modell, das ist eine Aufteilung der bundesstaatlichen Zuständigkeiten nach Staatsfunktionen, und zwar mit dem Witz oder dem Clou, wenn man so will, und das ist der Ursprung aller Probleme, dass Gesetzgebungszuständigkeit auf der zentralen Ebene, also bei uns beim Bund, zentralisiert ist nach dem Artikel 70 folgender, während die Verwaltungskompetenz, die Vollziehung dieser Bundesgesetze, im Schwerpunkt ganz überwiegend bei den Ländern liegt. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Faszinierend. Und welche Rolle spielen denn nun die Gemeinden in diesem Gefüge?

PROF. CHRISTIAN WALDHOFF: Die Gemeinden sind jetzt keine dritte bundesstaatliche Ebene, sondern die Gemeinden gehören zur Ebene der Länder. Die Gemeinden sind Teile der Länder nach der bundesstaatlichen Konstruktion des Grundgesetzes, sie sind aber, Stichwort Selbstverwaltung, in gewisser Weise verselbstständigt. Sie sind eigene Verwaltungsträger, also juristische Personen des öffentlichen Rechts, und sie haben Selbstverwaltungskompetenzen, das heißt, sie können ihre eigenen Angelegenheiten in gewisser Weise selbstständig und ohne Einfluss der Länder oder gar des Bundes verwalten. Das meint man mit Selbstverwaltung, aber das sind im Grunde besondere Teile, etwas leicht ausgegliederte Teile, die aber verwaltungsmäßig zu den Ländern gehören. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Vielleicht kommen wir noch mal zurück zu dem Verhältnis von Bund und Ländern. Nun haben wir diesen Unterschied, den Sie gerade skizziert haben zwischen den verschiedenen Staatsfunktionen, wie wirken sich denn diese dargestellten Rollen zwischen Bund und Ländern bei der Finanzierung der jeweiligen Aufgaben aus? 

PROF. CHRISTIAN WALDHOFF: Genau, die Folgefrage ist ja dann: Wer bezahlt das Ganze? Der Bund macht ein Gesetz, hier zum Beispiel ein Sozialgesetz, Sozialhilfe hat man das früher genannt, es geht um das Existenzminimum. Die Länder vollziehen es, machen also die verwaltungsmäßige Durchführung, aber wer bezahlt das? Das ist die interessante Frage. Dafür gibt es eine Bestimmung im Grundgesetz, nämlich die Eingangsnorm zur Finanzverfassung, Artikel 104a, die Ausgaben- oder Finanzierungslast. Das ist eine besondere Kompetenz, die nur in der Finanzverfassung, weil es ja um Kosten geht, eine Rolle spielt und eine Rolle spielen kann. Und dort ist geregelt, dass die Finanzierungslast im normalen Fall, es gibt Ausnahmen, auf die wir auch noch zu sprechen kommen werden, dass im Normalfall diejenige staatliche Ebene die Finanzierungslast trägt, die Vollzugskompetenz, also die Verwaltungszuständigkeit hat. Und das führt zu einem Folgeproblem: Da könnte ja der Bund sagen, tja, wir haben nicht die Verwaltungskompetenz, aber die Gesetzgebungskompetenz, deswegen machen wir die dollsten Sozialgesetze der Welt, dann werden wir nämlich wiedergewählt, und die Länder müssen das ja ausführen, Artikel 83, Artikel 84, und die tragen dann auch noch die Kosten. Also, das wäre ja etwas seltsam, politisch, aber auch menschlich gedacht, der Bund kreiert über seine Gesetzgebungskompetenz kostenintensive Gesetze, und die Länder müssen die ausführen und die Kosten auch noch zahlen. Das kann natürlich so nicht ganz richtig sein, weil dann gäbe es ja überhaupt keine Grenzen für den Bund, jetzt den Sozialstaat explodieren zu lassen, wenn ich das mal so sagen darf. Deshalb ist es zum Beispiel so, dass bei Geldleistungsgesetzen, und um Geldleistungen geht es ja bei der Sozialhilfe im Wesentlichen, die eigentliche Geldleistung in der Tat vom Bund übernommen werden muss, das sind Ausnahmeregelungen in 104a folgende, Grundgesetz, also in der Finanzverfassung, dass aber die Verwaltungskosten und die Personalkosten, das kostet ja was, das alles zu administrieren, das bleibt bei den Ländern oder den Kommunen, wenn die betroffen sind, hängen, weil diese Grundregel der Ausgaben- oder Finanzierungskompetenz des Artikel 104a Grundgesetz zum Tragen kommt.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Sie haben dargelegt, dass verfassungsrechtlich die Länder dafür zuständig sind, die Bundesgesetze auszuführen. Wie kommen wir denn jetzt hier auf die kommunale Ebene? Also warum führen nun die Gemeinden die Gesetze aus und nicht die Länder?

PROF. CHRISTIAN WALDHOFF: Nach der Grundregel Artikel 83, Artikel 84 Grundgesetz muss das Sozialhilferecht, wird das SGB, Bundesgesetz, von den Ländern ausgeführt. Wie kommen wir jetzt also zur kommunalen Ebene? Dieser Schritt muss noch bedacht werden. Das machen die Länder durch Landesgesetze. Auf Landesebene gibt es Ausführungsgesetze zu den meisten Bundesgesetzen, und dort wird geregelt, welche Verwaltungsebene innerhalb des Landes den Gesetzesvollzug dann tatsächlich durchführt. Und die meisten Landesaufgaben werden gar nicht von Landesbehörden, da gibt es auch nur ganz wenig, ausgeführt, sondern die Länder delegieren durch ihre Landesgesetze diese Aufgaben an die kommunale Ebene, an die Landkreise, an die kreisfreien Städte, manchmal auch an die Städte und Gemeinden selbst. Also diesen Zwischenschritt, den muss man noch bedenken. Dadurch kommen erst, hier in unserem Fall, in unserer zu besprechenden Entscheidung die Landkreise und die kreisfreien Städte dazu, das SGB auszuführen. Und man muss vielleicht noch ergänzen, das ist ja auch ein Problem dieses Falles, dass der Bund manchmal natürlich auch unmittelbar versucht zuzuweisen, also das eigentliche Modell wäre: Die Länder delegieren das an ihre Kommunen, und dann gab es und gibt es teilweise auch heute noch Fälle, wo im Bundesgesetz selbst schon gesagt wird, entweder pauschal, dass das die Kommunen machen sollen, oder wo es zumindest Einflussnahmen des Bundes auf diese Ausführung durch die kommunale Ebene gibt. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: So lag es ja in diesem Fall, wenn ich mich richtig erinnere, da hat die Zuständigkeitsregelung im SGB 12 vorgesehen, dass die von dem kommunalen Bildungspakte vorgesehenen Leistungen von den Sozialhilfeträgern, also den kreisfreien Städten und den Landkreisen, zu gewährleisten sind. Jetzt sind wir auf dieser kommunalen Ebene, und da kommt jetzt eben ein interessantes verfassungsrechtliches Konstrukt zum Vorschein, die kommunale Selbstverwaltung. Was müssen wir denn darunter verstehen? Können Sie das für uns mal konturieren? Wie kommt das in dieses Verhältnis des föderalen Bundesstaates eigentlich hinein? 

PROF. CHRISTIAN WALDHOFF: Also, die kommunale Ebene, Städte, Gemeinden und Landkreise werden darunter zusammengefasst, genießen nach dem Grundgesetz einen besonderen Schutz. Sie sind sogenannte kommunale Selbstverwaltungskörperschaften und zu ihren Gunsten streitet die kommunale Selbstverwaltungsgarantie, die im Grundgesetz in Artikel 28, Absatz zwei, niedergelegt ist. Auf lokaler Ebene gibt es Selbstverwaltung, das heißt, die Bürgerschaft, die Bürgerinnen und Bürger sollen in besonderer Weise an der Verwaltungsaufgabe beteiligt werden. Das ist der Hintergrund dafür, dass auf dieser kommunalen Ebene Selbstverwaltungsvertretungen gewählt werden, Stadträte, Gemeinderäte, Kreistage, die nach dem gleichen Wahlmodus wie Bundestagswahlen stattfinden und dadurch eine zusätzliche Mitwirkungsmöglichkeit der örtlichen Bevölkerung, des Gemeinde- oder Kreisvolkes ermöglichen und gleichzeitig, weil das ja echte demokratische Wahlen sind, auch zusätzliche demokratische Legitimation erzeugen. Den Gemeinden und Landkreisen ist dadurch ein klagefähiges subjektives Recht eingeräumt, die sogenannte subjektive Rechtsstellungsgarantie des Artikel 28, Absatz 2. Das heißt, die einzelne Selbstverwaltungskörperschaft auf kommunaler Ebene kann den durch Artikel 28, Absatz 2 Grundgesetz Verpflichteten zur Einhaltung, notfalls gerichtlich im Klageweg, zwingen. Das ist ein klagefähiges subjektives Verfassungsrecht, zwar kein Grundrecht aber so was Ähnliches wie ein Grundrecht, das den Selbstverwaltungskörperschaften Abwehrmöglichkeiten, wenn in diese kommunale Selbstverwaltungsgarantie eingegriffen wird, zur Verfügung stellt. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Jetzt gibt es typischerweise verschiedene Ausprägungen dieses Rechts auf kommunale Sebstverwaltungsgarantie. Vielleicht können Sie uns helfen, diese verschiedenen Hoheiten, die die Kommunen haben, die ihnen zukommen, noch mal etwas konturieren, um das etwas plastischer zu machen, was denn eigentlich umfasst ist von dieser kommunalen Selbstverwaltungsgarantie.

PROF. CHRISTIAN WALDHOFF: Also, diese kommunale Selbstverwaltungsgarantie wird dann in verschiedene Teilhoheiten untergliedert. Und man unterscheidet, ich werde das dann erklären, die Gebietshoheit, die Planungshoheit, die Organisationshoheit, die Finanzhoheit und die Personalhoheit der Kommunen. Was ist damit gemeint? Gebietshoheit heißt, es gibt ein klar abgegrenztes Gemeindegebiet mit Gemeindegrenzen. Und hinsichtlich der örtlichen Angelegenheiten haben die Gemeinden hier Regelungsbefugnisse, das ist sozusagen die räumliche Abgrenzung dessen, was dieser kommunalen Selbstverwaltung untersteht. Planungshoheit bedeutet, die Gemeinden können die kommunale Bauleitplanung, die heißt deshalb auch kommunale Bauleitplanung, durchführen, das heißt, sie können Bebauungspläne und Flächennutzungspläne nach dem Baugesetzbuch im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie erstellen und verabschieden. Organisationshoheit heißt, im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben der Gemeindeordnungen können sich die Gemeinden in ihrem Verwaltungsaufbau, in ihrer Behördenstruktur selbst organisieren. Finanzhoheit heißt, die Gemeinden haben einen gewissen Anspruch auf eine Mindestfinanzausstattung von staatlicher Seite, also vonseiten des Landes aus, und sie können selbst Einnahmen generieren. Sie können Gebühren und Beiträge erheben für Müllabfuhr, für Kindergärten, für Schwimmbäder, für Bibliotheken. Und sie können auch sogenannte örtliche Verbrauch- und Aufwandsteuern, also kleinere eigene Steuern erheben. Und schließlich die Personalhoheit: Die Gemeinden entscheiden selbst autonom darüber, wen sie als Verwaltungsbeamtin, Verwaltungsbeamten anstellen, wie groß die Personalausstattung sein soll und ähnliches. Also sie haben Autonomie, eine gewisse Freiheit in diesen Gebieten Organisation, Planung, Finanzen und Personal.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Jetzt werden in dem vorliegenden Zusammenhang den Kommunen ja aus diesen Bereichen, die Sie gerade skizziert haben, keine Aufgaben entzogen, sondern ihnen werden neue Aufgaben zugewiesen. Wie wirkt sich das jetzt auf die Selbstverwaltungsgarantie aus? 

PROF. CHRISTIAN WALDHOFF: Der klassische Fall der Beeinträchtigung der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie wäre der natürlich, eine eigentlich den Kommunen in dem gerade skizzierten Modell zugewiesene Aufgabe wird jetzt doch vom Land oder, noch schlimmer, doch vom Bund durchgeführt. Und dann sind die Kommunen sauer und sagen: Hier, unsere Selbstverwaltungsgarantie wird beeinträchtigt, wir klagen jetzt gegen dieses Gesetz mit der kommunalen Verfassungsbeschwerde! Das wäre der klassische Fall. Das hat es auch dutzendfach gegeben, das ist auch heute noch der klassische Fall. Die Besonderheit dieser Entscheidung vom 7. Juli 2020, Zweiter Senat Bundesverfassungsgericht, ist jetzt eine andere, und da muss man einmal um die Ecke denken in gewisser Weise. Hier hat der Bund nicht der kommunalen Ebene Aufgaben entzogen, sondern neue Aufgaben zugewiesen. Und die erste Überlegung ist ja: Das ist ja umso besser, da können die ja noch mehr im Rahmen ihrer Selbstverwaltung machen! Nein, das ist natürlich nicht so, sondern wenn die Gemeinden zu viele fremde Aufgaben, die sie selbst ja gar nicht, ohne diese bundesgesetzliche Regelung, machen müssten und machen würden, wenn sie immer mehr solche Aufgaben durch Bund oder Land zugewiesen bekommen, schrumpft ihr Spielraum für den eigentlichen Kernbereich von Selbstverwaltungsaufgaben, also für das, was sie ohne Bund und ohne an das Land zu denken, autonom wirklich selbst machen wollen. Weil nämlich Finanzen gebunden werden, weil Personal gebunden wird, das müssen sie selbst bezahlen, auch wenn es um die Auszahlung von Sozialleistungen wie hier im vorliegenden Fall geht, und weil vielleicht auch in die Organisationshoheit etwas eingegriffen wird der Kommunen, weil gesagt wird, wie dieses Gesetz zu vollziehen ist. Das heißt, nicht nur durch den Entzug von Aufgaben von der kommunalen Ebene hin zur staatlichen Ebene, sondern auch durch die unkontrollierte Zuweisung neuer Verwaltungsaufgaben jenseits der Selbstverwaltung kann die Selbstverwaltung beschädigt werden, weil die Kommunen vielleicht überfordert werden. Und so lag es hier in dem Fall: Eine neue Aufgabe kam hinzu oder eine alte Aufgabe wurde weiter ausgedehnt und ausgeweitet, und die klagenden Kommunen, das waren kreisfreie Städte aus dem Land Nordrhein-Westfalen im Wege der kommunalen Verfassungsbeschwerde, wandten sich nun gegen die bundesgesetzliche Regelung mit dem Argument, dass sie in ihrem eigentlichen autonomen Selbstverwaltungsbereich dadurch stark eingeschränkt worden seien. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Und jetzt kommt in diese Fallkonstellation, die von Ihnen gerade skizzierte Dimension und Beeinträchtigung der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie eine ganz interessante Norm hinein: der Artikel 84, Absatz 1, Satz 7, das sogenannte Durchgriffsverbot. Nach dieser Norm dürfen Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben durch Bundesgesetz nicht übertragen werden. Könnten Sie erst mal erläutern, wie es zu dieser Norm kam?

PROF. CHRISTIAN WALDHOFF: Die Norm stand nicht 1949 von Anfang an im Grundgesetz, sondern sie wurde durch die Föderalismusreform eins im Jahr 2006, glaube ich, eingeführt. Und sie wird kurz bezeichnet als ein Durchgriffsverbot des Bundes auf die Ebene der Kommunen. Das heißt, der Bund darf durch Bundesgesetz nicht unmittelbar mit Wirkung für und gegen die kommunale Ebene, Städte, Gemeinden und Landkreise, Regelungen treffen. Durchgriff heißt Durchgriff durch die Landesebene. Bevor es diese Regelung gab, 84, Absatz eins, Satz sieben Grundgesetz, also vor 2006, kam es durchaus vor, dass der Bund direkt den Kommunen Aufgaben zugewiesen hat. Gleichwohl war es für den Bund oftmals attraktiv, Aufgaben direkt den Kommunen zuzuweisen unter Umgehung der Länder, weil etwa dann Widerstand der Länder im Bundesrat, wenn eine Bundesratszustimmung für das Bundesgesetz erforderlich war, nicht so ausgeprägt war, als wenn man das dem Land zugewiesen hat. Das sollte durch diese Föderalismusreform unterbunden werden, durch die Föderalismusreform eins, und zwar mit der klaren Intention, die Gemeinden zu schützen. Zu schützen in diesem Fall vor dem unmittelbaren Bundesdurchgriff. Das heißt, seit es den Artikel 84, Absatz eins, Satz sieben gibt, muss der Bund erst mal an die Länder zuweisen, und die Länder können es dann an die Kommunen zuweisen. Man könnte ja jetzt denken: Warum dieser Formalismus? Warum macht man diese Erschwerung, da kann das doch der Bund auch selbst machen? Dahinter steckt ein finanzverfassungsrechtliches Problem, das ganz interessant ist. Es gibt nämlich auch auf Landesebene ein sogenanntes Konnexitätsprinzip oder eine sogenannte Konnexitätsregelung in den Landesverfassungen der Flächenbundesländer, wo drinsteht, wenn das Land seinen Kommunen Aufgaben überträgt, muss es einen Kostenausgleich schaffen. Sonst könnte ja das Land alle Aufgaben an die Kommunen abdrücken und sagen: Ph, die machen das, wir haben keinen Aufwand, und die bezahlen das auch noch! Das wäre natürlich zu einfach gedacht. Dann wären die Kommunen wieder schutzlos. Deshalb gibt es in den Landesverfassungen aller Flächenbundesländer dieses sogenannte Konnexitätsprinzip, wenn das Land eine eigene Landesaufgabe oder eine Aufgabe vom Bund, Landesvollzug von Bundesgesetzen, an die Kommunen weiterdelegiert, dann muss immer ein Kostenausgleich geschaffen werden, sonst ist diese Übertragung landesverfassungsrechtswidrig. Diese sogenannten Konnexitätsregelungen gelten aber nur dann, wenn das Land weiterdelegiert. Wenn der Bund das direkt macht, bleiben die Kommunen schutzlos und geldlos. Denn der 104a der bundesstaatlichen Finanzverfassung gilt nur im Verhältnis von Bund und Ländern. Und die landesverfassungsrechtlichen Parallelnormen, diese sogenannten landesverfassungsrechtlichen Konnexitätsvorschriften, die gelten nur im Verhältnis von Land und Kommune, aber nicht von Bund und Kommune. Das heißt, dieses Verbot des Bundesdurchgriffs in Artikel 84, Absatz eins, Satz sieben Grundgesetz schützt die Kommunen vor dem, ja, Missbrauch durch den Bund und garantiert ihnen, dass sie für diese übertragenen Aufgaben einen Kostenausgleich bekommen. Und wenn das so eingehalten wird, ist das für die Kommunen auch in der Tat nicht schlimm, denn ihre Finanzmittel und ihre Personalressourcen werden dann ja nicht beansprucht, weil sie das ja wieder erstattet bekommen und deshalb noch genug Geld und genug Ressourcen und genug Energie für ihre eigentlichen Selbstverwaltungsaufgaben vor Ort, wo sie wirklich was autonom gestalten wollen, übrig bleibt. Und eine zentrale und ganz wichtige Aussage dieses Beschlusses vom Juli 2020 ist es nun, dass es sich bei dem Artikel 84, Absatz eins, Satz sieben, also bei dem Verbot, gegenüber dem Bund direkt auf die kommunale Ebene zuzugreifen, um eine Ausprägung des Artikel 28, Absatz zwei, also um eine konkretisierende Ausprägung der verfassungsrechtlich geschützten kommunalen Selbstverwaltungsgarantie handelt. Und damit, sagt das Gericht, ist auch die Verletzung von 84, Absatz eins, Satz sieben rügefähig im Wege der kommunalen Verfassungsbeschwerde. Und gleichzeitig konturiert der Senat damit, was dieser Artikel 84, Absatz eins, Satz sieben eigentlich soll, was die Ratio leg ist dieser erst in der Föderalismusreform eins eingeführten Norm, nämlich der Schutz der Kommunen, deshalb kann man das als Ausfluss der Selbstverwaltungsgarantie sehen. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Nun war es in dem vorliegenden Fall so, dass die streitige (?ständige) Aufgabe, nämlich die Sozialhilfe, das hatten Sie ja auch schon gesagt, den Kommunen bereits oblag, also den kreisfreien Städten und den Landkreisen bereits oblag. Sie war den Kommunen schon vor der Einführung von Artikel 84, Absatz eins, Satz sieben übertragen worden. Also, es handelte sich nicht um eine Übertragung einer neuen Aufgabe, sondern um die Erweiterung bereits bestehender Aufgaben. Wie geht das Bundesverfassungsgericht mit diesem Aspekt um?

PROF. CHRISTIAN WALDHOFF: Das ist ein Problem, das sich immer strukturell stellt, wenn die bundesstaatliche Kompetenzordnung verändert wird. Was ist mit den Altfällen, also, Sie sagen völlig zu Recht, die Sozialhilfe wurde immer schon, solange es das Grundgesetz gibt, von der kommunalen Ebene ausgeführt und vollzogen. Und jetzt kommt 2006, Föderalismusreform eins, dieses Durchgriffsverbot des Bundes. Und da sagt der Bund natürlich zur Verteidigung: Wieso, das war doch immer schon so! Wo ist denn das Problem, wir verstoßen doch gar nicht gegen Artikel  84, Absatz eins, Satz sieben Grundgesetz. Also, durch Übergangsrecht, Artikel 125a Grundgesetz, ist erst mal zunächst festgelegt, das geht auch gar nicht anders, dass die schon bestehenden Regelungen, die jetzt nicht mehr möglich wären, weil sie jetzt einen verbotenen Durchgriff des Bundes auf die kommunale Ebene darstellen würden, dass die erst mal erhalten bleiben. Also es führt sozusagen nicht zur nachträglichen Verfassungswidrigkeit. Das leuchtet ja auch ein, weil, der damalige Gesetzgeber konnte ja gar nicht wissen, was sich noch ändert, und das wäre ja ein Unding, das jetzt-, würde auch zu riesiger Rechtsunsicherheit führen, das aufzuheben. Jetzt stellt sich aber folgendes Folgeproblem, auch in unserem Fall: Heute wäre das nicht mehr möglich. Und wenn man das jetzt stur und streng sehen würde, dann würde das zu einer Versteinerung des Rechtszustands zum Zeitpunkt des Inkrafttretens von Artikel  84, Absatz eins, Satz sieben führen. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Was meinen Sie mit Versteinerung?

PROF. CHRISTIAN WALDHOFF: Also, das alte Recht bleibt bestehen. Jetzt kann der Bund aber wegen Verbot des Bundesdurchgriffs gar nichts mehr machen. Dann könnte er das noch aufheben, das könnte er machen. Aber das will er natürlich nicht. Also, das würde zu einer Versteinerung eines einmal verfassungsmäßig gewesenen Rechtszustands führen. Das sieht natürlich auch der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts, und er sagt: Kleinere Änderungen können, obwohl es jetzt das Durchgriffsverbot des  84, Absatz eins, Satz sieben Grundgesetz gibt, nach wie vor doch durchgeführt werden, eine Anpassung bundesgesetzlich bereits zugewiesener Aufgaben, war ja hier der Fall, an veränderte ökonomische und soziale Umstände ist nach der Übergangsregelung der Artikel 125a, Absatz eins, Satz eins Grundgesetz zulässig. Die Frage ist dann: Was sind solche kleinen Änderungen, solche Nachjustierungen, um eine Versteinerung des ursprünglichen Rechtszustands zu verhindern und zu vermeiden, das kann ja auch keiner wollen, das wäre ja sinnlos. Und das ist natürlich streitanfällig. Wenn jetzt die Sozialkosten wesentlich erhöht werden, so war es in dem vorliegenden Fall, weil ganz neue Posten in die Berechnung des Existenzminimums einbezogen werden sollen, Bildungsausgaben in diesem Fall, dann ist das eine so große Änderung, dass sie gegen das Durchgriffsverbot verstößt. Wenn aber nur kleinere Reparaturarbeiten, kleinere Nachsteuerungen, die nicht zu einer Systemausweitung, die nicht zu einer wirklich substanziellen Änderung führen, erfolgen müssen, weil es sonst irgendwelche kleinen Probleme gibt, das wäre nach wie vor möglich. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Würden Sie jetzt sagen, diese Entscheidung ist aus Ihrer Sicht richtig?

PROF. CHRISTIAN WALDHOFF: Ja, ich finde sie goldrichtig, ich finde sie wunderbar, weil ich aus verschiedenen Gründen ein Fan der kommunalen Selbstverwaltung bin. Das ist Demokratie vor Ort, dort kann geübt werden, dort kann politisches Personal herangebildet werden, dort ist der Abstand zwischen Staat und Bevölkerung geringer, vielleicht jetzt nicht in Berlin, da gibt es aber auch keine richtige kommunale Selbstverwaltung, aber jetzt in Landkreisen und so weiter, man kennt sich teilweise. Eigentlich, viele Krisenphänomene, die wir in der sogenannten Repräsentationskrise jetzt vielleicht auf der zentralen staatlichen Ebene wahrnehmen, können vor Ort doch viel besser vermieden werden. Und deshalb bin ich immer jemand, der für kommunale Selbstverwaltung eintreten wird, und deshalb finde ich die Entscheidung sehr richtig. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber jetzt aufgegeben, diese maßgeblichen Regelungen, die verfassungswidrig sind, bis Ende des Jahres 2021 verfassungskonform auszugestalten. Wie müsste man denn eine verfassungskonforme Regelung der kommunalen Bildungspakets gestalten, was würde man machen? 

PROF. CHRISTIAN WALDHOFF: Also, da ist ja eine gewisse Zwickmühle jetzt für den Gesetzgeber, denn nach dem Hartz IV-Urteil muss er ja die Bildungsausgaben einbeziehen, er kann jetzt nicht sagen: Dann machen wir es eben nicht. Das geht eben nicht. Aber dann müsste man den eingangs schon skizzierten Weg wählen, das den Ländern, also nicht unmittelbar den Kommunen zuzuweisen, dann müsste man das den Ländern zuweisen. Vielleicht mit dem Hinweis, das dann aus gutem Grund an die Kommunen weiterzudelegieren, aber mit der Folge, das hatte ich ja auch eben erklärt, dass dann die Kommunen von den Ländern einen Ausgleich nach dem landesverfassungsrechtlichen Konnexitätsprinzip bekommen. Also das wäre der richtige Weg. Denn die Länder freuen sich ja auch, wenn der Bund das macht. Denn sie sparen Geld, aber das dürfen sie nicht. Weil in den Landesverfassungen der Flächenländer drinsteht, landesverfassungsrechtliches Konnexitätsprinzip, wenn das Land Aufgaben auf die Kommunen überträgt, muss es für einen Kostenausgleich sorgen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Diesen skizzierten Weg können die Länder jetzt nicht unbedingt begrüßen, weil sie dann die gerade beschriebenen zusätzlichen Kosten tragen müssten.

PROF. CHRISTIAN WALDHOFF: Das ist in der Tat richtig, belastet werden dann die Länder, weil die das dann den Kommunen wieder erstatten müssen. Und dann stellt sich für die Länder natürlich die Frage: Und was ist jetzt mit uns los? Das hat aber die Finanzverfassung eingeplant, um das zu bewältigen. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Für diejenigen unserer Zuhörerinnen und Zuhörer, die sich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts selbst noch einmal anschauen möchten, worauf sollten sie ihren Blick besonders richten?

PROF. CHRISTIAN WALDHOFF: Also wenn man die Entscheidung liest, finde ich, sollte man zwei Randziffern vielleicht erwähnen. Ich meine, solche Entscheidungen sind ja immer die große Herausforderung für Studierende. Ich würde die Randziffern 50 und 58 empfehlen, bezogen auf die Selbstverwaltungsgarantie. 50 ist im Grunde noch mal die explizierende Rekonstruktion, was immer schon gesagt wurde zu 28 zwei, und 58 ist dieser Kick sozusagen, dass auch durch die Zuweisung neuer Aufgaben die Selbstverwaltungsgarantie beeinträchtigt werden kann.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Zum Abschluss möchte ich mit Ihnen gern noch mal den Blick nach vorn wenden. Wir haben jetzt diese Entscheidung, die die kommunale Selbstverwaltungsgarantie stärkt, dieses Durchgriffsverbot konkretisiert, und jetzt stellt sich für mich die Frage: Sehen Sie andere Anwendungsfälle oder andere Fälle, in denen dieses spannungsgeladene Verhältnis zwischen Bund, Ländern und Kommunen in der Wahrnehmung und der Finanzierung von Staatsaufgaben noch mal zum Ausdruck kommt? Ob das jetzt im Kontext der Coronapandemie oder im Kontext der Bewältigung der Folgen des Klimawandels auftreten könnte?

PROF. CHRISTIAN WALDHOFF: Die klassischen Fälle, wo es um diese Durchgriffsfragen ging vor der Coronapandemie, waren meistens irgendwelche Sozialleistungen, das muss man klar sehen. Aber die Kommunen vollziehen und haben auch immer schon vollzogen ja auch alle möglichen anderen Bundesgesetze. Das Passgesetz zum Beispiel, wenn Sie einen neuen Pass haben wollen, gehen Sie ja nicht zum Land, sondern zur Gemeindeverwaltung, um das zu machen. Oder das Straßenverkehrsgesetz wird von den Kreisen und kreisfreien Städten vollzogen, Stichwort Straßenverkehrsamt und so weiter, wenn man eine Kraftfahrzeugzulassung haben will. Also das wären jetzt klassische Fälle, wo das relevant sein könnte. In der Coronapandemie war das Problem, dass ja auch ein Bundesgesetz vollzogen wird, das Infektionsschutzgesetz, und dass der Bund jetzt vielleicht mit dem Vollzug durch die Länder, dann weitergereicht auf die Gesundheitsämter auf kommunaler Ebene, nicht so richtig einverstanden war. Das klappte vielleicht aus Sicht des Bundes nicht so gut. Und da hat der Bund auch dauernd versucht, hineinzufunken. In einer Novelle des Infektionsschutzgesetzes hatte er sich zum Beispiel Verwaltungskompetenzen vorbehalten, dass er da einfach eingreifen kann, wenn ihm irgendwas nicht gefällt beim Vollzug des Infektionsschutzrechts. Das halte ich für verfassungswidrig. Da gibt es jetzt noch keine Rechtssprechung aus Karlsruhe zu, weil ja die Rechtssprechung auf verfassungsrechtlicher Ebene noch gar nicht richtig existiert, alles nur einstweiliger Rechtsschutz. Und zu diesen bundesstaatlichen Detailfragen habend die sich eh noch nicht geäußert. Aber das wäre ein Beispiel, dass, ich nenne es mal salopp, Gelüste des Bundes, auf Landes- und kommunaler Ebene beim Verwaltungsvollzug durchzugreifen, auch und gerade in der Coronapandemie von großer Aktualität sind. Hier werden Probleme des Vollzugs oder Exekutivföderalismus sehr, sehr plastisch. Vielleicht hat der Bund auch, von Verfassung wegen, zu wenig Einwirkungsmöglichkeiten da, wo es vielleicht sinnvoll wäre, zum Beispiel in der Pandemiesituation. Es kann auch im Einzelfall sinnvoll sein, wenn der Bund (?Inhärenzrechte) hat, die er zurzeit nicht hat. Aber nicht beim normalen Vollzug, und sei es eben der Sozialhilfe, wie hier im vorliegenden Fall, sondern in irgendwelchen Katastrophenszenarien oder ähnlichem.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Was wären das für konkrete Zugriffsrechte oder Kompetenzen, die der Bund haben müsste, und in welchen Krisenkonstellationen wäre das Ihres Erachtens interessant?

PROF. CHRISTIAN WALDHOFF: Katastrophenschutz ist ja Landessache, und zwar im Wesentlichen sogar auf der Gesetzgebungsebene und so. Und da müsste man darüber nachdenken, ob man das nicht irgendwie vereinheitlicht. Es sind ja jetzt Entwürfe auf dem Tisch oder werden diskutiert, das zu einer Gemeinschaftsaufgabe zu machen, so wie Artikel 91a und 91b, die Gemeinschaftsaufgaben zwischen Bund und Ländern darstellen. Und ich meine, die Coronapandemie ist ja ein Ereignis von nationaler Tragweite, das ist ja sogar ein Gesetzesbegriff im Infektionsschutzgesetz, Paragraf fünf Infektionsschutzgesetz. Und da ist eine gewisse Vereinheitlichung auch im Vollzug vielleicht sogar sinnvoll. Das muss man sich im Einzelfall angucken. Ob da 16 unterschiedliche Schulregelungen, Schule ist ja Landeskompetenz, aber 16 unterschiedliche Schulregelungen wirklich sinnvoll sind, ist noch die Frage. Das hat der Bund ja auch gesehen, das hat den Bund auch genervt, diese sogenannte Bundesnotbremse war vielleicht dann der bundesstaatliche Overkill, das gleich durch Gesetz abzustellen, aber das ist, glaube ich, bundesstaatlich gedacht der Punkt, zu überlegen, welche Aufgaben auf die zentrale Ebene gehören, sowohl hinsichtlich der Gesetzgebungs- als auch hinsichtlich der Vollzugskompetenz, und welche Aufgaben auf die dezentrale Ebene gehören. Wie gesagt, ich habe mich ja hier schon als überzeugter Föderalist geoutet, aber in diesen Punkten würde ich doch selbst noch mal näher nachdenken, ob nicht da sogar eine gewisse Zentralisierung sinnvoll sein kann. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Dann freue ich mich darauf, dass wir hoffentlich mit Ihnen wieder sprechen werden über ein solches Thema, wenn eine solche weitere Entscheidung anliegt, und jetzt möchte ich mich bei Ihnen, lieber Herr Professor Waldhoff, ganz herzlich bedanken für das Gespräch. 

PROF. CHRISTIAN WALDHOFF: Gern geschehen. 

Erwähnte Gerichtsentscheidungen

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts findet ihr hier.

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