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„Apotheken“-Entscheidung des BVerfG – mit Prof. Emanuel Towfigh

Jurafuchs Podcast #008 | Was schützt die Berufsfreiheit und unter welchen Voraussetzungen kann sie eingeschränkt werden? | BVerfG, Urteil vom 11.06.1958 - 1 BvR 596/56

Zusammenfassung

2021 feiern wir 70 Jahre Bundesverfassungsgericht. Aus diesem Anlass ergänzen wir unseren Spruchreif-Podcast ab Ende 2021 um ein neues Segment: Spruchreif KLASSIKER. Wir diskutieren Leitentscheidungen aus 70 Jahren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Wir zeigen auf, warum diese Entscheidungen so berühmt sind, wie sie die Rechtsprechung und das Leben in Deutschland geprägt haben und warum sie heute noch Relevanz entfalten.

In der ersten Folge von Spruchreif Klassiker diskutieren wir das berühmte Apotheken-Urteil vom 11. Juni 1958 (1 BvR 596/56). Es handelt sich um eine der Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die nicht nur jede Studentin und jeder Student kennen sollte, sondern die auch das berufliche Leben der Menschen in Deutschland bis heute prägt. 

Professor Emanuel V. TowfighInhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Empirische Rechtsforschung und Rechtsökonomik an der EBS Law School in Wiesbaden, ruft diese Leitentscheidung in Erinnerung und bettet sie in ihren Kontext ein. Professor Towfigh legt dar, wie das Bundesverfassungsgericht die Berufsfreiheit verfassungsrechtlich auflädt, warum es die berühmte „Drei-Stufen-Theorie“ entwickelt, und welche Auswirkungen die Entscheidung bis heute hat. Zudem schlägt Professor Towfigh den Bogen nach Europa und zeigt auf, wie die Berufsfreiheit europarechtlich geschützt wird.

Interview (Transkript)

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Willkommen bei Spruchreif Klassiker. Mein Name ist Wendelin Neubert und zusammen mit Professor Emanuel Towfigh von der IBS Law School gehe ich den Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auf den Grund.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Die Berufsfreiheit schützt nicht nur die Gewerbefreiheit als objektives Prinzip einer Wirtschaftsordnung. Sondern sie hat auch einen besonderen, individuellen Wert für die einzelne, betroffene Person. Die berufliche Tätigkeit ist identitätsprägend, hat auch etwas mit Wahrnehmung und Erleben von Freiheit zu tun. Das Bundesverfassungsgericht sagt: „Wir müssen unterscheiden, welche Intensität der Eingriff in die Berufsfreiheit hat.“ Und jetzt kommt das, wofür diese Entscheidung berühmt geworden ist: Die Drei-Stufen-Theorie.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Hallo Herr Professor Towfigh.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Hallo Herr Neubert.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Schön, dass Sie wieder bei Spruchreif zu Gast sind.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Ja, freut mich. Vielen Dank für die Einladung. Immer gerne.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Sehr schön. Wir feiern in diesem Jahr 70 Jahre Bundesverfassungsgericht. Das wollen wir zum Anlass nehmen mit Ihnen Klassiker der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Regal zu holen. Und zu prüfen, was diese Entscheidungen so berühmt gemacht hat. Und welche Relevanz haben diese Entscheidungen für uns noch heute. In der ersten Folge von Spruchreif Klassiker befassen wir uns mit der Apotheker-Entscheidung vom 11. Juni 1958. Es handelt sich um eine der Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes, die nicht nur jede Studentin und jeder Student kennen sollte. Sondern die auch das berufliche Leben von Menschen in Deutschland bis heute prägt. Lieber Professor Towfigh, könnten Sie uns zum Einstieg bitte einmal den Sachverhalt dieses Falls in Erinnerung rufen?

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Ja, sehr gerne. In der Tat eine der spannenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes. Es ging darum, dass im Jahr 1956 ein in einer Apotheke in Traunstein angestellter Apotheker eine Betriebserlaubnis zur Eröffnung einer neuen, eigenen Apotheke in Traunreut beantragt hat. Bei neu zu errichtenden Apotheken bedurfte es nach dem damaligen bayerischen Apothekengesetzes einer Erlaubnis. Und diese Erlaubnis war gesetzlich nur dann zu erteilen, wenn die Errichtung der Apotheke zur Sicherung der Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln im öffentlichen Interesse liegt. Und darüber hinaus, wenn anzunehmen war, dass ihre wirtschaftliche Grundlage gesichert ist. Und die wirtschaftliche Grundlage benachbarter Apotheken nicht gefährdet wird. Das war die damalige Rechtslage. Vor diesem Hintergrund hat unser Apotheker eine Betriebserlaubnis beantragt. Und die Regierung von Oberbayern hat gesagt: „Nein.“ Die hat den Antrag abgelehnt, mit der Begründung, dass es schon eine andere Apotheke in Traunreut gibt. Sodass diese auch ausreichend sei für die Versorgung mit Arzneimitteln. Einer zusätzlichen Apotheke bedürfe es nicht. Im Gegenteil, eine zusätzliche Apotheke würde einerseits die wirtschaftliche Grundlage der bereits existierenden Apotheke gefährden. Und es sei auch nicht klar, inwiefern ihre eigene wirtschaftliche Grundlage gesichert sei. Das war die Argumentation, gegen diese Entscheidung hat sich dann der Beschwerdeführer gewandt und gesagt: „Die Versagung der Betriebserlaubnis dieser Apotheke sei verfassungswidrig, weil sie auf einem verfassungswidrigen Gesetz beruhe.“ Das ist in groben Strichen skizziert der Sachverhalt, um den es ging, der dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt war.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Super, danke. Dann kommen wir zu der Norm, die im Zentrum dieses Falls steht, Artikel 12, Grundgesetz. Und Artikel 12, Absatz eins bestimmt, ich zitiere: „Alle Deutschen haben das Recht Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes geregelt werden.“ Was sagt das Bundesverfassungsgericht in der Apotheken-Entscheidung zum Schutzbereich des Artikels 12, Absatz eins Grundgesetz?

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Da muss man sich anschauen, was das Bundesverfassungsgericht im Wortlaut sagt, was ist die vordergründige Argumentation. Ich möchte aber auch darauf eingehen, was möglicherweise an Motiven dahinter liegt. Vordergründig ist es tatsächlich so, das Bundesverfassungsgericht sagt: „Wir haben hier einen einheitlichen Schutzbereich der Berufsfreiheit. Berufsausübungs- und Berufswahlfreiheit bilden einen einheitlichen Schutzbereich.“ Es stützt sich dabei auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum damaligen Zeitpunkt, des Bundesverwaltungsgerichts zum damaligen Zeitpunkt. Und auch auf eine verbreitete Literaturmeinung. Es tritt allen dreien aber auch entgegen, indem es sagt: „Ja, die Berufsfreiheit schützt nicht nur die Gewerbefreiheit als objektives Prinzip einer Wirtschaftsordnung.“ Sondern sie geht darüber hinaus und es gibt dann so eine Art grundrechtliche Aufladung. Was man häufig bei frühen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes sieht. Und das Bundesverfassungsgericht unterstreicht die Bedeutung für die Persönlichkeit, für die freie Entfaltung der Persönlichkeit der Grundrechtsträger*innen. Dazu muss man sehen: Ganz junges Gericht. 1958 frühe Entscheidungen. Noch nicht das politische Kapital, das politische Gewicht in der Ordnung der Verfassungsorgane, wie wir es heute als selbstverständlich kennen beim Bundesverfassungsgericht. Deswegen sehr ausführliche Begründungen, Absicherungen. Das ist meines Erachtens schon der Versuch politisches Kapital aufzubauen und Legitimationen durch rationale, nachvollziehbare Begründungen zu schaffen. Und vorzubereiten, dass dieses Gesetz verfassungswidrig ist, der große Knaller dieser Entscheidung. Dass das Bundesverfassungsgericht hier sagt: „Wir haben es mit einem verfassungswidrigen, nichtigen Gesetz zu tun.“

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Jetzt haben Sie schon weit vorausgegriffen, aber Danke für diese Einordnung. Die erklärt vielleicht auch, diese Intensität, mit der das Gericht das Verständnis von Artikel 12 hier auflädt. Also es ist nicht nur eine wirtschaftliche Tätigkeit, die geschützt wird. Sondern die Beziehung zur Persönlichkeit, dass das Gericht sagt: „Das ist eine Tätigkeit, der sich der Einzelne widmet, die für ihn Lebensaufgabe und Lebensgrundlage ist. Und durch die er gleichzeitig einen Beitrag zur gesellschaftlichen Gesamtleistung bringt.“ Das Bundesverfassungsgericht schließt an dieser Stelle mit den Worten: „Die Arbeit als Beruf hat für alle gleichen Wert und gleiche Würde.“ Was folgt jetzt daraus für das Verständnis des Schutzbereichs der Berufsfreiheit? Ist sie eine besonders stark geschützte Norm? Oder ist es bloß, dass der Schutzbereich sehr weit zu verstehen ist?

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Nein, ich glaube, das Bundesverfassungsgericht bereitet damit schon einen sehr weiten Schutzbereich vor, aber auch eine hohe Schutzintensität. Ich meine, wenn man solche Begriffe wie Persönlichkeit, Entfaltung im Munde führt, dann schwingt da auch ein Stück weit der Kern der Menschenwürde mit. Damit sagt das Bundesverfassungsgericht: „Es geht hier nicht nur darum die Grundlagen unserer Wirtschaftens zu regeln. Sondern sie hat auch einen besonderen, individuellen Wert für die einzelne, betroffene, geschützte Person.“ Und ich glaube, dass es damit das Grundrecht eigentlich mal richtig einordnet. Das ist ein wesentliches Entgegentreten der bis dahin überwiegenden, auch gerichtlichen, Auffassung, wo es mehr darum ging: „Ja, Artikel 12, Artikel 14 sind so Wirtschaftsgrundrechte. Die definieren den Rahmen unseres Wirtschaftens.“ Was der Staat in dem Bereich zu tun hat, hat er halt zu tun. Jetzt greife ich schon wieder ein Stück vor, aber deswegen die Idee letztlich eines einfachen Gesetzes oder Regelungsvorbehaltes. Also keine besondere Hürde, wenn es um die Beschränkung der Berufsfreiheit geht. Sondern da waren die Gerichte bis dahin auch relativ großzügig. Das war eigentlich der Clou hinter dem Move, das als einheitliches Grundrecht zu präsentieren. Weil eigentlich ist es relativ klar, Berufsausübungsfreiheit, einfacher gesetzlicher Regelungsvorbehalt. Berufswahlfreiheit, vorbehaltlos gewährleistet. Das sieht man sowohl an ihrem vorhin zitierten Text mit der Norm. Aber wenn man in den Motiven der Protokolle schaut, wir eindeutig, dass das diskutiert wurde. Die Berufswahlfreiheit sollte unbeschränkt gewährt werden. Das haben die Gerichte und auch … #00:09:58# so ein bisschen verkommen lassen. Die haben gesagt, es ginge vor allem um das Wirtschaften. Das Individuum stünde da gar nicht im Mittelpunkt. Deswegen wären Eingriffe auch relativ leicht möglich. Da macht das junge Bundesverfassungsgericht nicht einen kompletten Strich durch die Rechnung. Sondern sagt: „Ja, einheitlicher Schutzbereich, weil wir können die Schutzgehalte nicht so gut auseinanderhalten.“ Aber dann lädt es den Inhalt auf. Und sagt: „Wir schützen hier die berufliche Tätigkeit, das ist identitätsprägend, hat etwas von Wahrnehmung und Erleben von Freiheit zu tun.“ Es hat auch etwas mit Lebensgrundlage zu tun und diese ist auch nicht nur die wirtschaftliche Perspektive. Sondern es ist auch eine existenzielle Frage: Kann ich mich selbst erhalten? Kann ich durch meine eigene Hände Arbeit meinen Lebensunterhalt verdienen? Das ist eine sehr individuelle Perspektive, die einer sehr etatistischen Perspektive, wie sie die Gerichte vorher hatten, ein wenig entgegentritt.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Das Gericht macht ja dann, vor allen Dingen auch in späteren Entscheidungen, daraus, dass dem Einzelnen erstmal das Recht zusteht jede Tätigkeit, die er für sich als geeignet glaubt, als Beruf ergreifen darf. Und zur Grundlage seiner Lebensführung machen darf. Und sagt: „Da fällt erstmal alles darunter, ob traditionell oder nicht, selbstständig oder nicht.“ Wenn man sich diesen Schutzbereich so anschaut, dann wirkt er sehr weit gefasst. Da stellt sich hier die Frage: Stellt jetzt jede staatliche Regelung, die in irgendeiner Art und Weise Auswirkungen auf die berufliche Tätigkeit herbeiführt, einen Eingriff in die Berufsfreiheit dar?

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Genau, das eine super hergeleitete Frage, die des Eingriff und des Umgangs mit staatlichen Maßnahmen, die in irgendeiner Form den Beruf tangieren. Da kann man an sehr vieles, was ich tue und auch wegen meines Berufes tue, denken. Aber nicht alles, was da reguliert wird, muss direkt ein Eingriff in meine Berufsfreiheit sein. Den Kontrapunkt von Ihrem geschilderten sehr weiten Schutzbereich bietet dann das Merkmal der berufsregelnden Tendenz. Wie es vom Bundesverfassungsgericht genannt wird. Wo es dann darum geht, die angegriffene Norm, die angegriffene staatliche Maßnahme, ist die wirklich auf die Ausübung oder die Wahl des Berufs bezogen? Geht es hier wirklich um Beruf oder eine andere Meinung oder irgendwas anderes? Das hat dann einen Reflex, der sich in meinem Berufsleben manifestiert. Und dieser Reflex reicht laut Bundesverfassungsgericht nicht aus. Sondern wir brauchen hier etwas, was spezifischen Berufsbezug aufweist.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wenn ich jetzt beispielsweise eine straßenverkehrsrechtliche Regelung betrachte, die mich ärgert und dazu führt, dass ich länger brauche, um ins Büro zu kommen, dann wirkt sich das vielleicht aus. Aber hat eben nicht die von Ihnen beschriebene berufsregelnde Tendenz.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Vielen Dank, ein fantastisches Beispiel. Diese Auswirkungen gibt es in vielen Fällen, die sind aber nicht rechtfertigungsbedürftig vor dem Grundrecht der Berufsfreiheit.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Nun haben wir das Verständnis vom Schutz- und Eingriffsbereich einigermaßen im Griff. Jetzt kommen wir zur Ebene der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Da haben Sie auch schon ein wenig vorgegriffen. Jetzt sagten Sie auch es gibt einen Regelungsvorbehalt, eine Regelungsbefugnis. Wir lernen heute in Grundrechte-Vorlesungen, dass typischerweise Grundrechte heute unter einem einfachen oder qualifizierten Gesetzesvorbehalt stehen. Jetzt haben wir hier aber einen Regelungsvorbehalt. In Normtext heißt es „zu regeln“ und nicht wie sonst oft „zu beschränken“. Was ist denn jetzt ein Regelungsvorbehalt?

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Ich würde sagen, die überwiegende Auffassung geht hier zurück und sagt, wir haben ein letztlich eine Art normgeprägtes Grundrecht bei der Berufsfreiheit. (I: Was ist das denn?) Normgeprägte Grundrechte sind Grundrechte, wo Grundbegriffe tatbestandliche Begriffe des geschützten Lebenssachverhaltes und des geschützten Lebensverhaltens nicht in der Verfassung selbst definiert werden können. Das klassische Beispiel ist das Eigentum. Das Grundgesetz spricht sehr nonchalant vom Eigentum. Aber was Eigentum ist kann das Grundgesetz natürlich in der Detailtiefe, wie es ein bürgerliches Gesetzbuch kann, nicht entfalten. Deswegen sagen wir, es ist ein normgeprägtes Grundrecht. Das heißt, was Eigentum im Einzelnen ist, muss im einfachen Recht ausgestaltet und definiert werden. Das hat in gewisser Weise Rückwirkung auch auf den Verfassungstext. Wir haben natürlich einen verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff, welcher auch vom einfach gesetzlichen und bürgerlich rechtlichen Eigentumsbegriff abweicht. Vor allen Dingen aber bietet das Eigentumsgrundrecht Schutz davor, dass der Eigentumsbegriff durch den Gesetzgeber ausgehöhlt wird. Es muss einen gewissen Gehalt haben und diesen Mindestgehalt lesen wir in die Verfassung rein. Und sagen: „Okay, genügt uns das, was der Gesetzgeber getan hat, um hier von Eigentum zu sprechen?“ Genau das gleiche gibt es in anderen Bereichen, bei dem Begriff Ehe und Familie. Beim Berufsbeamtentum hat man so eine Normprägung. Das ist überall da, wo letztlich die Verfassung angewiesen ist auf eine Konkretisierung durch das einfache Recht. Das Problem ist natürlich, dass er einfache Gesetzgeber damit letztliche die Kriterien der Verfassung unterlaufen könnte. Und davor muss die Verfassung schützen. Das ist das Problem normgeprägter Grundrechte, in diesen Bereichen spricht man dann von einer Regelungsbefugnis. Das ist dann so ein bisschen janusköpfig. Einerseits haben wir die Ausgestaltung durch den einfachen Gesetzgeber, worauf die Verfassung angewiesen ist. Gleichzeitig bietet diese auch ein Risiko für die verfassungsrechtliche Gewährleistung, die die Verfassung kontrollieren und einhegen möchte. Und diese Janusköpfigkeit findet dann Niederschlag in der Regelungsbefugnis. Wenn wir von der Regelungsbefugnis sprechen, wenn wir vom normgeprägten Grundrecht sprechen, dann ist die Grenze natürlich die Garantie dieser Einrichtung. Also des Eigentums oder des Berufs. Das heißt aber, dass der Gesetzgeber den Wesensgehalt des Grundrechts nicht antasten darf. Das ist die Begründung warum BGH, Bundesverwaltungsgericht und so weiter gesagt haben: „Wir kontrollieren nur, ob der Wesensgehalt bei der Regelung angetastet wird.“ Da sagt das Bundesverfassungsgericht: „Nein, das reicht nicht.“ Wir haben vorhin gesehen, es geht nicht nur um die Regulierung der Wirtschaft. Es geht um mehr, um höchstpersönliche Güter, persönlichkeitsrelevante Schutzgüter hier in der Verfassung. Wir haben zwar diesen einheitlichen Schutzbereich und damit auch die Regelungsbefugnis. Wir akzeptieren, dass sich das auf dieses einheitliche Grundrecht bezieht. Aber wir müssen doch unterscheiden. Und da kommt jetzt das, wofür diese Entscheidung berühmt geworden ist: Die Drei-Stufen-Theorie. Das Bundesverfassungsgericht sagt: „Wir müssen unterscheiden, welche Intensität der Eingriff in die Berufsfreiheit hat.“ Da gibt es unterschiedliche Intensitäten. Einmal können wir schauen, wo es um die Ausübung des Berufs geht, um einfache Regelungen, wie zum Beispiel der Koch muss eine Mütze tragen. Hygieneanforderungen an Restaurants, solche Geschichten. Da geht es um die Art und Weise des Berufs. Jeder darf einen Beruf ergreifen, aber wir regulieren, wie er ausgeübt werden darf. Dann gibt es eine Stufe, wo wir subjektive Anforderungen an den Zugang zum Beruf stellen. Die geneigten Jurafuchs-Zuhörenden sind auf dem Wege zu staatlich lizensierten Juristen zu werden. Der Zugang zum Rechtsanwaltsmarkt, zum Notariatsmarkt und so weiter ist durch Qualifikationen abgesichert. Wir wollen eine Qualitätsabsicherung. Das heißt, sie müssen erstes, zweites Staatsexamen haben, wenn sie Rechtsanwälte werden wollen. Dann gibt es eine dritte Stufe, die objektive Berufswahl. Da schauen wir nach rein objektiven Kriterien, auf die die Person individuell keinen Einfluss mehr hat. Um das Examen kann ich mich kümmern, lernen, Jurafuchs-Fragen beantworten und so weiter, das habe ich selber, subjektiv noch in der Hand. Dann gibt es objektive Regelungen. Beispielsweise hier bei dem Apotheker: Gibt es überhaupt Bedarf? Da hat das Individuum keinen Zugriff mehr darauf. Das sind die drei Stufen, die das Verfassungsgericht unterscheidet und sagt: „Auf die nächstintensive Stufe darf der Gesetzgeber nur gehen, wenn es auf der unteren Stufe keine ausreichende Möglichkeit gibt, die jeweiligen gesetzgeberischen Belange zu verfolgen.“ Dann sagt es: „An diese drei Stufen knüpfe ich Voraussetzungen, was den Zweck der Norm angeht.“ Also auf der ersten Stufe der Berufsausübungsregelungen, da reicht jede vernünftige Erwägung des Gemeinwohls. In Klammern, das klingt sehr nach einfachen Gesetzesvorbehalten. Auf der zweiten Stufe brauchen wir schon Erwägungen von besonderer Bedeutung. (I: Gewichtige Gemeinwohlbelange, heißt es in der Entscheidung.) Genau. Und bei der dritten Stufe, den objektiven Regelungen, brauchen wir überragende Rechts- oder Gemeinschaftsgüter, denen die Bestimmung zu dienen bestimmt ist. Wenn wir jetzt einen Schritt zurückmachen und überlegen, woher kommt uns dieses überragend wichtiges Rechts- oder Gemeinschaftsgut bekannt vor, dann denken wir vielleicht: vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte, praktische … #00:22:34#. Das sind so die Begriffe, die uns dann assoziativ aufleuchten. Und wenn wir dann noch einen Schritt zurückgehen, dann sehen wir: Berufsausübungsregelung, jede vernünftige Gemeinwohlerwägung, einfacher Gesetzesvorbehalt. Der Begriff bei den Berufswahlregelungen erinnert uns an vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte. Dann schauen wir in den Text von Artikel 12 und sehen: Berufsausübungsregelung, einfacher Gesetzesvorbehalt. Und Berufswahlregelungen nach dem ausdrücklichen Willen der Verfassungsgeber*innen vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht. Das Bundesverfassungsgericht kommt auf eine Art da raus. Es gibt den Gerichten und der damals herrschenden Meinung einheitlicher Schutzbereich, aber im Ergebnis bei der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung landet es eigentlich bei dem, was der Text zeigt.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Ganz spannend. Haben sich in der Folge dieser Entscheidungen, die erstmal sehr stark daher kommt und auch sehr komplex begründet wird, Herausforderungen der Anwendung der Drei-Stufen-Theorie ergeben? Und gilt diese Theorie eigentlich heute noch?

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Das ist eine sehr gute Frage. Es gibt eine Reihe von Herausforderungen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz war in der damaligen Judikatur angelegt, aber noch nicht so ausdifferenziert. Insofern ist da schon ein Stück weit eine parallele Entwicklung. Man hat im Prinzip die Gesetzeszwecke festgelegt. Das ist etwas, was wir klassisch vom Gesetzesvorbehalt kennen. Die Qualifizierung des Gesetzesvorbehaltes folgt in der Regel auf der Ebene des legitimen Zwecks. Das ist das, was das Gericht hier auch macht. Es hat auch ein bisschen Einfluss darauf, was wir für erforderlich erachten. Weil das Gericht sagt: „Wir dürfen auf die nächste Stufe erst gehen, wenn auf der vorigen Stufe kein Mittel zur Verfügung steht.“ Das erinnert uns so ein bisschen an die Erforderlichkeit. (I: Milderes Mittel.) Genau, milderes Mittel. Insofern sind da so parallele Diskursstränge, die sich entwickeln. Wenn man in die jüngere Rechtsprechung schaut, gibt es Entscheidungen, wo das Bundesverfassungsgericht bei der Berufsfreiheit nicht mehr auf die Drei-Stufen-Theorie (?reduziert). Sondern einfach eine Verhältnismäßigkeitsprüfung macht. Was sich gut hören lässt. Aber es verhält sich nicht dazu, ob es die Drei-Stufen-Theorie aufgibt oder nicht.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wie ist es denn in einem Fall, in dem ich mich auf der untersten Stufe befinde, also Berufsausübungsregelung. Aber diese Berufsausübungsregelung von der Intensität der Beeinträchtigung faktisch so zu bewerten ist, wie wenn ich eine objektive Berufswahlzulassungsbeschränkung hätte?

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Ja, das ist eine große Frage. Wir sprechen über Klassiker-Entscheidungen, aber wir befinden uns im zweiten Jahr der Pandemie. Da gibt es eine ganze Menge Konstellationen, wo man sagen muss, wenn ich den Wirten bestimmte Dinge auferlege, wenn ich sage, es gibt Bewirtungsverbote. Dann sage ich nicht, ich verbiete ihm Wirt zu sein. Der darf sein Gasthaus auf haben. Der darf nur wegen der Pandemie keine Gäste haben. Was auf eine Art auf das gleiche rauskommt. Natürlich kann man sagen, das sei eine Berufsausübungsregel. Wegen der hygienischen Situation und so weiter, alles nachvollziehbar. Aber von der Wirkung, den Effekt, den es auf den individuellen Wirt, die individuelle Wirtin hat, ist es natürlich absolut vergleichbar mit einer objektiven Berufswahlregelung. In beiden Fällen ist der Laden zu. Das ist natürlich eines der Probleme, eines der Bereiche, wo das Bundesverfassungsgericht sagt: „Wir müssen auf die Intensität schauen. Wir müssen allgemeine Verhältnismäßigkeitserwägungen anstellen.“ Und sich davon so ein bisschen löst. Dann kommen wir hier in den Full Circle. Das ist natürlich schon das, was BGH und Bundesverwaltungsgericht ganz früh sagen: „Einheitlicher Schutzbereich, wenn es um den Beruf geht, gibt es Regelungen, da kann man nicht so genau sagen, ob es jetzt Berufsausübung oder Berufswahl ist. Deswegen sehen wir es als einheitlichen Schutzbereich.“ Das ist auch ein Stück weit die Möglichkeit, die sich dem Bundesverfassungsgericht eröffnet zu sagen: „Wir schauen bei den Stufen eher auf die Intensität. Greifen alles durch den Schutzbereich. In den Stufen schauen wir auf die Intensität und können da alles abgreifen. Und lösen uns ein Stück weit von der Drei-Stufen-Theorie, bewegen uns hin zu einer leicht modifizierten Verhältnismäßigkeitsprüfung.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Ich weiß nicht, wie Sie es Ihren Studierenden beibringen. Ich habe am Ende meines Studiums gelernt, dass die Drei-Stufen-Theorie heute amalgamiert ist mit der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Da ist auch spannend, dass diese Prüfung, wie wir sie heute kennen, zum damaligen Zeitpunkt gar nicht so stark präsent war. Dies hat zur Folge, dass das Bundesverfassungsgericht sich einer solchen anderen Struktur bedient, bei der es irgendwann merkt: „Ich muss die irgendwie zusammenbringen.“

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Absolut, ein superspannender Hinweis und eine spannende Entwicklung. Das ist auch der Grund, warum Sie diese Klassiker-Podcasts machen. Dass man diese Entwicklungslinien in etwas größeren Zeiträumen Revue passieren lassen kann. Ich würde sagen, Sie haben Recht, dieses Prinzip war nicht so prominent, nicht so klar herausgearbeitet und nicht hundertfach erprobt. Ich würde spekulieren, möglicherweise hat auch die Drei-Stufen-Theorie zu einer feinen und klugen Fortentwicklung des Verhältnismäßigkeitsprinzips beigetragen. Und die Amalgamierung, die Zusammenführung ist dann auch das Ergebnis dessen, dass so ein Gericht ausprobiert, welche (?Top-Hall), welche Begriffe, Strukturen, Schemata funktionieren? Welche kann ich möglichst allgemein postulieren und auf eine Vielzahl von Fällen anwenden? Da entwickelt sich so ein Gericht auch. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist eines der Exportschlager des deutschen Rechts. Das hört man immer mal wieder. Ist eine sehr kluge justizielle Praxis geworden. Aber es ist eine Neuschöpfung. Und da muss man sich auch erstmal ein wenig ausprobieren, es braucht Zeit, um sich zu entwickeln. Deswegen ist es ein Stück weit logisch, dass es sich amalgamiert. Und wenn man ein bisschen in die Zukunft sehen möchte, sich die Drei-Stufen-Theorie ein Stück weit überlebt hat. Es ist ein Relikt. Ich sage meinen Studierenden, die müssen es lernen und draufhaben. Es wird in der Klausur nach wie vor vorkommen. Aber man muss auch beobachten was das Bundesverfassungsgericht macht. Und nach meinem Eindruck verabschiedet es sich langsam davon.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Jetzt haben wir diese sehr komplexen Anforderungen im Detail betrachtet. Auch schon sehr weit in die Zukunft geschaut, aus der Perspektive des damaligen Gerichts. Aber lassen Sie uns jetzt noch diese Anforderungen auf unseren Fall anwenden. Wie hat das Bundesverfassungsgericht letztlich im Apotheken-Fall entschieden?

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Das Ergebnis war, dass das zugrundeliegende bayerische Gesetz verfassungswidrig ist. Das war schon eine sehr deutliche Ansage für ein so junges Gericht. Die sehr ausführliche Begründung des Bundesverfassungsgerichtes stützt sich vor allen Dingen darauf, dass für eine Beschränkung auf der dritten Stufe, der objektiven Berufswahlbeschränkung, keine hinreichende verfassungsrechtliche Rechtfertigung geliefert werden konnte. Natürlich ist die Volksgesundheit ein solches, wichtiges Gut. Wir würden heute sagen, die Funktionsfähigkeit der Gesundheitssysteme, was ich einen schöneren Begriff als diese Anlehnung an den Volkskörper finde. Also die Funktionsfähigkeit der Gesundheitssysteme und die Qualität der medizinischen Versorgung ist unbestritten ein Rechtsgut vom Verfassungsrahmen. Und wäre damit im Prinzip geeignet hier auch einen solchen Eingriff zu rechtfertigen. Zumal es beispielsweise auch in den USA aktuelle Fragen gibt, wo großen Apothekenketten vorgeworfen wird an der Opioid-Krise Mitschuld zu tragen und mitverantwortlich zu sein. Weil sie unkontrolliert zur Steigerung des eigenen Profits, mit Blick auf den engen Wettbewerb, Medikamente abgegeben hätten, ohne zu kontrollieren, ob es ordnungsgemäße Verschreibungen und so weiter gibt. Dieser Verdacht ist naheliegend. Das Bundesverfassungsgericht sagt aber: „Na ja, das kann man alles aber auch anders regeln.“ Erstens ist es nicht ausreichend dargetan, dass hier so eine Gefahr besteht. Und es ist auch nicht ausreichend dargetan, dass es keine anderen, gesetzgeberischen Lösungsmöglichkeiten gibt. Keine anderen Regulierungspfade, mit denen man das auf der zweiten Stufe eventuell schon erreichen könnte. Da stellt das Gericht auch ein paar Erwägungen an und sagt: „Ja, aber wir sind keine Gesetzgeber. Und der Gesetzgeber muss sich nicht verpflichtet fühlen“ Und so weiter. Also sehr zurückgenommen. Aber es stellt so eben Ersatzerwägungen an, um zu überprüfen, ob der Eingriff in dieser Intensität nötig ist. Und sagt dann „Nein“. Das führt letztlich dazu, dass das Gericht das Gesetz für verfassungswidrig hält und für nichtig erklärt.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Danke. Nun wollen wir den Blick gemeinsam noch ein wenig weiten und uns fragen, wie eigentlich die Rechtslage in der europäischen Union aussieht. Wie sieht denn die Berufsfreiheit nach europäischem Recht aus?

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Wenn wir auf das EU-Recht und da insbesondere auf die Grundrechte-Charta schauen, finden wir zwei Normen. In Artikel 15 und in Artikel 16 dieser Charta. Artikel 15 geht auf die Berufsfreiheit, Artikel 16 auf die unternehmerische Freiheit. Zwischen den beiden gibt es dann Anforderungen auf der Ebene der Rechtfertigung von Eingriffen. Es ist grundsätzlich so, dass die Rechtfertigung in der europäischen Grundrechte-Charta einheitlich nach Artikel 52, Absatz eins erfolgt. Also für alle Grundrechte gibt es die gleiche Rechtfertigungshürde für Eingriffe. Artikel 52, Absatz eins legte eine Wesensgehaltsgarantie nieder. Es normiert einen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, verlangt für Eingriffe eine gesetzliche Grundlage und diese muss der Verwirklichung des Gemeinwohls zu dienen bestimmt sein. Das ist das Paket, welches bei jedem Grundrechtseingriff, in einem Grundrecht der europäischen Grundrechte-Charta, zu berücksichtigen ist. Insgesamt was den Schutz und vor allem die Konturen des Schutzbereiches angeht, das ist ja das interessante. Wenn Eingriff und Rechtfertigung, alle nach demselben Muster, nach 52, Absatz eins laufen, ist das, was im Europarecht eigentlich interessant ist, der Schutzbereich. Da muss man sagen, es ist noch vergleichsweise konturenarm. Da gibt es noch nicht so viele Rechtsprechungen dazu. Wir sind heute da im Prinzip wo das Verfassungsgericht 1958 war: In der Entwicklung des Grundrechtsschutzes. Was man sagen kann, ist, dass in Artikel 15 zwischen Berufswahl und Berufsausübung nicht unterschieden wird.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Und zu den Freiheiten in der grenzüberschreitenden Ausübung von Berufen haben natürlich auch die Grundfreiheiten ganz stark beigetragen. Wie erleben Sie das? Und wo stehen wir da heute? Vielleicht können Sie diese Entwicklung noch einmal kurz für uns nachskizzieren.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Ja, das ist ein superspannender Bereich. Und Sie haben völlig Recht. Das zeigt wieder, dass wir Juristen oder ich jedenfalls möglicherweise häufig zu kompartmentalisiert denken. Also natürlich sind die Grundfreiheiten keine Grundrechte. Sondern die Logik, die Ratio hinter den Grundfreiheiten ist die Gewährleistung eines gemeinsamen Marktes. Das heißt, es geht wirklich nur darum sicherzustellen, dass ein einheitlicher Wirtschaftsraum gewährleistet ist. Dass es keinen Diskriminierungen gibt aufgrund der Staatsangehörigkeit und so weiter. Aber nicht mit dem Zielt des Schutzes des Individuums, sondern es geht darum auf europäischer Ebene einen gemeinsamen, funktionsfähigen Markt zu etablieren. Das heißt aber natürlich nicht, dass das nicht doch massive Effekte auf Sie und mich haben könnte. Denn das hat es in der Tat. Die Niederlassungsfreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit, wenn Sie auf diese Grundfreiheiten blicken, dann haben die natürlich ganz massiv Einfluss darauf, wo ich meinen Beruf ausüben kann. Dass ich diesen auch in Frankreich ausüben kann. Es gibt große Regulierungen dazu und auch zum europäischen Rechtsmarkt. Darf ich als deutscher Anwalt in Italien tätig sein? Und so weiter. Das sind alles ganz massive Effekte der Niederlassungsfreiheit, der Arbeitnehmerfreizügigkeit, insgesamt der Grundfreiheiten auf unser alltägliches Berufsleben. Und vielleicht können wir da nochmal einen Bogen zur Apotheker-Entscheidung schlagen. Das Bundesverfassungsgericht hat ja großen Wert darauf gelegt, dass man Artikel 12 nicht nur als Fundament der Wirtschaftsordnung sehen darf. Da muss man sagen, die Grundfreiheiten sind aus einer reinen Wirtschafts- und Marktlogik erdacht. Da geht es überhaupt nicht um individuelle Freiheiten, trotzdem haben auch die einen sehr starken Effekt. Deswegen ist die Aufladung des Bundesverfassungsgericht genau richtig, weil die Grundrechte eben einer anderen Logik folgen und den Menschen in den Mittelpunkt des Rechts stellen. Während die Grundfreiheiten den Markt in ihren Mittelpunkt stellen. Aber trotzdem ist die Wirkung auch der Regulierung der Wirtschaftsordnung und der Freiheit der Wirtschaft, eine nicht zu vernachlässigende Triebfeder für die Freiheiten, die wir alle genießen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Klar, die haben natürlich einen unterschiedlichen Anwendungsbereich, die Grundrechte-Charta in Bezug auf Akte der Unionsorgane und Akte der Mitgliedsstaaten, bei der Anwendung und Durchsetzung des Unionsrechts. Sie haben vollkommen Recht, die Struktur ist eine andere. Aber faktisch hat der EUGH ein ähnliches Ergebnis herbeigeführt, indem er den einzelnen in den Dienst des Binnenmarktes gestellt hat. Du darfst dich unmittelbar darauf berufen als Einzelner und sagen: „Die gilt auch für mich, diese Grundfreiheit.“ Das hat dann enorme Beschleunigungen in der Integration in Europa herbeigeführt. Aber auch Entwicklungen, die von vielen in Europa ursprünglich als Verwerfung, als Eingriff in ihre Souveränität gewertet wurden. Aber die auch getrieben vom Einzelnen diese Integration vorangeführt haben. Insofern bin ich dankbar, dass Sie auch diesen Aspekt nochmal aufgezeigt haben. Wir werden in Zukunft sehen wie weit sich Unterschiede zwischen dem Schutz der Berufsfreiheit nach dem Unionsrecht und nach Grundgesetz ergeben. Aber zu diesem Zeitpunkt möchte ich mich bei Ihnen, lieber Herr Towfigh, erstmal herzlich bedanken für dieses tolle Gespräch. Und die Einblicke, die Sie uns zu dieser Klassiker-Entscheidung mitgegeben und den Blick nach vorne, den Sie mit uns gewendet haben. Schön, dass Sie wieder zu Gast waren. Ich freue mich sehr auf weitere Gespräche mit Ihnen.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Ich danke Ihnen sehr für die Einladung. Mir hat es auch sehr großen Spaß gemacht mit Ihnen über diese Entscheidung nachzudenken und zu sprechen. Vielen Dank.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Danke.

Erwähnte Gerichtsentscheidungen

Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts geht es hier

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