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KLASSIKER: „Luftsicherheitsgesetz“ – mit Prof. Emanuel Towfigh

Jurafuchs Podcast #013 | Darf der Staat im Notfall ein von Terroristen gekapertes Passagierflugzeug abschießen, um dessen Einsatz als Waffe zu unterbinden? | BVerfG, Urteil vom 15.02.2006 - 1 BvR 357/05

Zusammenfassung

2021 feierte das Bundesverfassungsgericht 70. Geburtstag. Aus diesem Anlass haben wir unseren Podcast ab Ende 2021 um ein neues Segment ergänzt: Spruchreif KLASSIKER. Wir diskutieren Leitentscheidungen aus 70 Jahren Bundesverfassungsgericht und zeigen auf, wie sie das Recht und das Leben in Deutschland geprägt haben und warum sie heute noch Relevanz entfalten.

In der zweiten Folge von Spruchreif Klassiker diskutieren wir das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz. In der Folge der Terroranschläge vom 11. September 2001 hatte der Bundestag mit dem damaligen § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz eine Regelung geschaffen, die es der Bundeswehr erlaubte, als ultima ratio ein von Terroristen als fliegende Waffe gekapertes Passagierflugzeug abzuschießen. In dieser Entscheidung kommt es zum Schwur: Darf der Staat unschuldige Menschen töten, um andere unschuldige Menschen vor einem Angriff zu schützen? Es ist die Leitentscheidung zum verfassungsrechtlichen Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) (Urteil vom 15.02.2006 - 1 BvR 357/05). 

Professor Emanuel V. TowfighInhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Empirische Rechtsforschung und Rechtsökonomik an der EBS Law School, zeigt den historischen Kontext auf, vor dem sich diese Leitentscheidung abspielt. Er erklärt, welche Bedeutung die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG beansprucht und wie sie in der gerichtlichen Praxis angewandt wird. Er erläutert, was den Abschuss eines gekaperten Passagierflugzeugs verfassungsrechtlich von der gezielten Tötung eines Geiselnehmers unterscheidet, und schlägt den Bogen zu anderen Konstellationen, in denen die Menschenwürde durch staatliche Maßnahmen betroffen ist. Dabei macht Professor Towfigh greifbar, warum die Menschenwürdegarantie die Rechtsordnung des Grundgesetzes vor Dilemmata stellt und warum es so elementar wichtig ist, auch in Extremsituationen an ihrem absoluten Schutz festzuhalten. 

Interview (Transkript)

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Willkommen bei Spruchreif Klassiker. Mein Name ist Wendelin Neubert und zusammen mit Professor Emanuel Towfigh von der EPS Law School gehe ich den Leitentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auf den Grund.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das ist einer der inhaltsschwersten Sätze unserer Verfassung. Also in dem Augenblick, wo ich einen Eingriff in die Menschenwürde bejahe, ist dieser nicht mehr zu rechtfertigen. Und das ist eben anders als bei allen anderen Grundrechten, selbst beim Lebensschutz. Das führt zu einem Grundsatz unserer Verfassungstradition und auch unserer Interpretation der Menschenwürde, nämlich dass wir Menschenleben nicht gegeneinander abwägen. Das sind die Grenzsituationen des Lebens und das sind auch Grenzsituationen für das Recht.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Lieber Herr Towfigh, willkommen zurück bei Spruchreif.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Ja. Vielen Dank, dass Sie mich so lange aushalten.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Ich freue mich sehr, dass Sie wieder bei uns sind. Wir hatten wieder das Vergnügen, eine Klassiker-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu besprechen. Wir haben im vergangenen Jahr die Spruchreif-Reihe Klassiker aufgenommen, um 70 Jahre Bundesverfassungsgericht zu feiern und uns einige der Leitentscheidung des Bundesverfassungsgerichts anzuschauen. Und heute nehmen wir eine Entscheidung, die ziemlich jung ist, aber die ohne Zweifel zu den Leitentscheidung gehört, nämlich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz. Lieber (?Tofik), könnten Sie uns zum Einstieg mal darlegen, welcher Sachverhalt hier zugrunde liegt.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Sehr gerne, Herr Neubert. Aber wenn Sie erlauben, würde ich sogar noch einen Schritt hinter den Sachverhalt zurückgehen und ein bisschen die Bühne aufbauen, auf der dieses Stück später spielt.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Sehr gerne.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Und für den Kontext muss man wissen, für die jüngeren Zuhörer/-innen, die das vielleicht nicht mehr aus eigener Anschauung erinnern, dass Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre eine Zeit waren, wo sich Frieden einstellte. Also Gorbatschow kam mit der Perestroika, die Mauer fiel, es gab die deutsche Wiedervereinigung, Yitzhak Rabin und Yasser Arafat haben den Palästinakonflikt beigelegt und sind mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. Die IRA in Nordirland ist entwaffnet worden. Also es gab eine Aufbruchsstimmung, eine positive Stimmung, die dann auch literarisch gipfelte, in einem sehr berühmten Buch von Francis Fukuyama, der das Ende der Geschichte ausgerufen und gesagt hat: "Wir beginnen mit extremem Liberalismus. Die Antwort ist der Totalitarismus und die Synthese ist dann die liberale Demokratie, die haben wir erreicht, es kann nichts mehr kommen".

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Ja, schöne Weltvorstellung.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Das war die Weltvorstellung, aber das war auch ein Lebensgefühl. Und ich glaube, es ist wichtig, dieses einmal einzuatmen und aufzusaugen. Es bekam erste Kratzer mit dem Balkankrieg in den 90er Jahren und dann aber mit der als Katastrophe wahrgenommenen Situation der Anschläge, vor allen Dingen auf das World Trade Center in New York, in den USA. Wo an Live-Bildschirmen zwei Flugzeuge in riesen Türme, die als Symbol der freiheitlichen Welt galten, gelenkt wurden und diese beiden Türme vor den Augen der Menschheit in sich zusammenbrachen. Der Staub verteilte sich über die ganze Stadt, die Asche war in Wohnungen. Am Central Park setzte sie sich in den Häusern ab. Dort waren dicke Asche-Schichten auf den Möbeln. Da war ein Angriff auf die Idee der freiheitlichen Demokratie, des Liberalismus, des Multilateralismus. Und das gipfelte auch wieder in einem Buch, das sehr berühmt geworden ist, nämlich Samuel Huntingtons Kampf der Kulturen. Das ist sozusagen die Szene, in der wir uns Anfang des neuen Jahrtausends befinden. Es gibt dieses singuläre Ereignis in New York oder in den USA diese gleichzeitigen Anschläge. Aber dann folgen Anschläge in Barcelona, in Paris, in Brüssel, also in vielen Großstädten und dieser Terror löst eine große Verunsicherung in der Bevölkerung aus. Es gibt Nachrichten über vereitelte Terroranschläge. Also es ist eine sehr aufgeheizte, sehr verunsicherte Situation. Vor dem Hintergrund beschließt dann der Bundestag das sogenannte Luftsicherheitsgesetz oder das Gesetz zur Neuregelung von den Luftsicherheitsaufgaben. Mit dem Ziel, unrechtmäßige Eingriffe in die zivile Luftfahrt zu verhindern, die Sicherheit der zivilen Luftfahrt insgesamt zu verbessern und dabei auch vor Gefahren zu schützen, die drohen, wenn Flugzeuge in die Gewalt von Menschen gelangen, die sie dann für luftverkehrsfremde Zwecke missbrauchen wollen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Also wir haben diese epochale Erfahrung von Daniel Leven, der die darauffolgenden Jahre durchweg definiert hat. Auch die Reaktionen des Westens. Insgesamt vieler Länder und eben auch Deutschlands. Und da geht es immer um die Vorstellung, wir haben eine Gruppe von Terroristen, die ein Passagierflugzeug kapern. Und in diesem Flugzeug sitzen natürlich noch die Passagiere, die unbeteiligten Zivilisten und das Flugzeug wird dann als fliegende Bombe genutzt und irgendwo hineingestürzt. Was sieht denn jetzt dieses Luftsicherheitsgesetz im Kern vor, worum es hier in diesem Verfahren geht?

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Also was Sie sagen, das ist sozusagen Teil eines größeren Maßnahmenpaket. Und für diese entsprechenden Maßnahmen soll eine gesetzliche Grundlage geschaffen werden, eben dieses Luftsicherheitsgesetz. Dazu gibt es dann Regelungen in Paragraphen 14 und 15 des Luftsicherheitsgesetz. Nach Paragraf 15 dürfen Einzelmaßnahmen zur Verhinderung des Eintritts eines besonders schweren Unglücksfalls erst getroffen werden, wenn eine ganze Reihe, eine Kaskade von Maßnahmen vorher getroffen worden ist. Also die Streitkräfte müssen die Situation überprüft haben und müssen erfolglos versucht haben, zu warnen, umzuleiten, Warnschüsse abzugeben. Da gibt es eine ganze Kaskade von Dingen, die passieren muss. Wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, dann dürften sie nach Paragraf 14, das Luftfahrzeug im Luftraum abdrängen zur Landung zwingen, den Einsatz von Waffengewalt androhen und Warnschüsse abgeben. Und wenn auch das nicht reicht, dann ist nach Paragraf 14 Absatz drei Luftsicherheitsgesetz, die unmittelbare Einwirkung auf das Luftfahrzeug mit Waffengewalt zulässig. Und das ist der Kern des Streits, wie es so schön im Gesetzes-Deutsch heißt. Mit anderen Worten, in diesem Fall, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll und die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt die einzige verbleibende Möglichkeit zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist, darf das Flugzeug dann abgeschossen werden.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Also wir haben, in diesem von Ihnen beschriebenen Rahmen, eine Befugnis zum Abschuss eines Passagierflugzeugs, das gekapert wurde. Lassen Sie uns vielleicht kurz einen Schritt zurückgehen. Es gab furchtbarerweise auch vergleichbare Konstellationen. Da ging es nicht um ein Flugzeug, da haben wir einen Geiselnehmer, beispielsweise einen Bankräuber oder einen Terroristen, der Menschen in seine Gewalt gebracht hat und in einem Gebäude droht, diese Menschen umzubringen. Und auch dort scheitern alle Verhandlungsmasse der Unterhändler. Die Polizei sieht keine andere Möglichkeit, das Menschenleben der Geiseln und anderen betroffenen Personen zu retten, als den Geiselnehmer, den Terroristen im Polizeirecht, den Störer, zu erschießen. Der sogenannte finale Rettungsschuss. Vielleicht können wir uns erst mal diese Konstellation angucken. Die ist natürlich anders qualifiziert als unser Fall, aber sie hilft, glaube ich, zum Verständnis der hier betroffenen Rechtsgüter und auch der Abwägung, die in solchen Fällen verfassungsrechtlich maßgeblich zu treffen ist.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Der maßgebliche Unterschied ist, dass sie in dem einen Fall nur den Täter / die Täterin selbst haben, also Geiselnehmerin / Geiselnehmer in dem Fall ihres finalen Rettungsschusses. Während in dem Flugzeug, das abgeschossen werden soll, unbeteiligte Passagiere sitzen. Und das ist letztlich auch die Frage, wenn man die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts liest, auf die es sich zuspitzt. Die Frage ist also, wenn es ein unbemanntes Flugzeug oder eine Drohne ist oder wenn im Flugzeug nur die Attentäterin / Attentäter sitzen, dann haben wir kein Problem. Dann gibt es auch eben diese Kaskade von Fragen, die zu prüfen sind. Das ist genau das, was insgesamt Paragraf 14 Luftsicherheitsgesetz alter Fassung gemacht hat. Also es muss Ultima Ratio sein, es darf keine anderen Mittel geben. Aber der Lebensschutz in unserer Rechtsordnung ist nicht ultimativ, ist nicht das höchste Gut, sondern in das Leben darf unter sehr engen Voraussetzungen eingegriffen werden. Und auch das Bundesverfassungsgericht führt aus, dass Leben und Menschenwürde sehr eng miteinander verbunden sind. Aber der Lebensschutz ist nicht absolut. Das heißt, die Straftäter/-innen, die Sie geschildert haben, die können mit einem finalen Rettungsschuss um ihr Leben gebracht werden. Die Frage ist jetzt bei dem Flugzeug, was ist eigentlich mit den unbeteiligten Menschen? Und da ist die Intuition, die können ja überhaupt nichts dafür, dass sie in dieser Situation sind, und die werden durch den Abschuss letztlich ihrer Menschenwürde beraubt. Und warum werden denn die Straftäter nicht ihrer Menschenwürde beraubt? Und da sagt das Bundesverfassungsgericht: "Nein. Die nehmen wir in ihrer Menschenwürde gerade ernst. Jede Tat evoziert eine Reaktion. Und wir nehmen Sie mit Ihrer Tat, mit diesem Attentat, mit Ihrem Anschlag ernst. Wir machen Sie nicht zum Objekt", um jetzt diese Objekt-Formel schon einmal vorzugreifen, "sondern wir nehmen Sie in Ihrem Menschsein ernst. Und das ist halt die Konsequenz. Die Konsequenz ist, dass Sie sterben."

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Das, was Sie zum Geiselnehmer gesagt haben, den man letzten Endes erschießen darf in einer solchen Ultima Ratio Situation. Das begründet das Bundesverfassungsgericht damit, dass es sagt: Die Schutzpflicht für die Unbeteiligten, die ja genauso wie der Geiselnehmer in den Genuss des Grundrechts aus Artikel 201 kommen, überwiegt hier, denn die können überhaupt gar nichts dafür. Die haben nichts getan, um dieser Schutzpflicht hier nicht zur Geltung verholfen wird. Und in dieser Abwägung zwischen dem Recht auf Leben des Geiselnehmer und der Schutzpflicht der betroffenen Personen, wird ausnahmsweise der Schutzpflicht also dann der Vorrang gegeben?

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Absolut, genau. Während die Menschen, die da als Passagiere zufällig in dem Flugzeug sitzen, die berauben wir eigentlich ihres Achtungsanspruches. Deren Menschlichkeit gerät in den Hintergrund und wir opfern sie individualisiert auf eine Art für andere Menschen. Und das ist die einzige Konstellation, mit der sich das Bundesverfassungsgericht dann unter dem Gesichtspunkt Menschenwürde auch befasst.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Jetzt kommen wir also in diese Menschenwürde-Konstellationen, in diesem ganz besonderen Fall, einer der wahrscheinlich relativ wenigen Fälle, in denen das Grundrecht, das an der Spitze unserer Verfassung steht, so deutlich hervorkommt. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie knapp einmal die Genese von Artikel eins Absatz eins aufzeigen könnten und uns einmal zeigen, was Menschenwürde eigentlich ist. Wie wird Menschenwürde, so wie wir sie in der Verfassung normiert haben, verstanden?

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Ja, die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das ist einer der inhaltsschwersten Sätze unserer Verfassung und sicher auch die Quintessenz, das Destillat der Lehren aus dem nationalsozialistischen Terror. Das ist sozusagen die rechtliche Einkleidung des Nie wieder. Nach der Bewusstwerdung über den Terror, den Deutschland über die Welt gebracht hat und das Leid, das verursacht wurde und die Morde, die begangen worden, sind, war die Frage: "Wie können wir uns vor solchen Katastrophen, vor einem solchen Holocaust in Zukunft schützen?" Und das war der Versuch eine Wertbindung zu erzeugen und völlig, unmissverständlich klarzumachen, der Staat soll dem Menschen dienen und nicht umgekehrt. In jedem der nachfolgenden Grundrechte wohnt dann ein unverbrüchlicher Menschenwürde-Kern inne. Und diese Menschenwürde-Garantie bindet nicht nur die Staatsgewalt, sondern entfaltet auch unmittelbare Wirkung zwischen Privaten. Also auch das Privatrecht muss gewährleisten, dass jeder Mensch menschenwürdig behandelt wird.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Diese Norm steht an der Spitze der Verfassung. Sie soll das Ganze, was folgt, leiten. Und sie ist eben ausdrücklich beschrieben als Bestandteil der Ewigkeitsgarantie. Und das ist aus der Perspektive ganz entscheidend, dass diese Norm justiziabel ist. Nun stellt sich dann die Frage, justiziabel kann die Norm ja nur sein, wenn man sie irgendwie definieren kann. Also müssen wir eigentlich die menschliche Würde irgendwie definieren. Wie macht man das?

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Das ist tatsächlich eine der großen Herausforderungen dieser Norm. Und ich kann vielleicht vorwegnehmen, dass es die eine universelle, wahre, unangreifbare Definition nicht gibt, auch rechtlich nicht. Es gibt so ein paar philosophische, historische Anknüpfungen, beispielsweise die sogenannte Anerkennungs-Theorie, die sagt, der Grund der Menschenwürde liegt in der Anerkennung, die sich Menschen gerade aufgrund ihres Menschseins gegenseitig schulden und zu gewähren haben. Und diese gegenseitige Anerkennung ist gleichsam der Klebstoff jeder Solidargemeinschaft. Es gibt die sogenannte Mitgift-Theorie, die auf den Eigenwert des Menschen abstellt, die also besagt, geschützt wird das, was den Menschen als Menschen ausmacht. Die Auffassung geht dann auf christliche, aufklärerische Ansichten, unter anderem auf die Idee des Menschen als Ebenbild Gottes zurück, die dann letztlich in der Philosophie Kant mündet. Also da gibt es unterschiedliche Begründungsansätze, die Menschenwürde insgesamt zu fundieren bemüht sind, aus denen sich Definitionen aber schwer ableiten lassen. Und das führt dann zu einer Konstruktion unter dem Grundgesetz, die sagt, dass die Menschenwürde den Eigenwert des Menschen beschreibt. Artikel eins schützt den Menschen als selbstbestimmtes, autonomes Wesen. Es kann niemals lebensunwertes Leben geben, wie es im nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungs-Staat propagiert worden ist. Aber das alles steckt nur einen Mindestrahmen ab. In der Fallprüfung muss man dann gucken, wie operationalisiert man das? Und da hat sich die berühmte Objekt-Formel nach Günter Dürig etabliert. Aus grundrechts-dogmatischer Sicht, ist das meiner Meinung nach etwas, mit dem man den Schutzbereich von Artikel eins, Absatz eins am zuverlässigsten im ersten Zugriff bestimmen kann. Gleichzeitig bleibt es nur eine Heuristik, also eine Faustformel, um den Gehalt der Menschenwürde zu definieren.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Was besagt diese Objekt-Formel?

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Die Objekt-Formel besagt, dass jede Behandlung des Menschen als bloßes Objekt ohne Eigenwert den Achtungsanspruch verletzt. Die Menschenwürde wohnt dem Menschen inne. Die kann man niemandem nehmen. Was man machen kann, ist den Achtungs-Anspruch menschenwürdig behandelt zu werden zu verletzen. Und den verletzt man eben, indem man ihn behandelt, als sei er ein bloßes Objekt und als komme ihm dieser Eigenwert, der ihm Kraft seines Menschseins zukommt, nicht zu. Das Bundesverfassungsgericht hat das noch so ein bisschen präzisiert, hat gesagt: "Erforderlich ist ein Infragestellen der Subjektqualität oder eine willkürliche Missachtung der Würde des oder der Betroffenen". Aber es bleibt bei so einer Näherung, bei einer Heuristik, bei einer Faustformel.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Ja, das ist ja ganz spannend, weil das Bundesverfassungsgericht versucht sich zu nähern, indem es offenkundige Verletzung der Menschenwürde zwar beschreibt, Folter Sklaverei, menschenunwürdige Behandlung, aber gleichzeitig ausdrücklich sagt: "Darauf ist das nicht beschränkt". Und das wird in unserem Fall besonders spannend. Aber es ist ganz hilfreich, sich für das Verständnis vor Augen zu führen, was der Achtungs-Anspruch beinhaltet. Wenn man sich diese Extremfälle vor Augen führt, um erst einmal ein Bild davon zu haben, was offensichtliche Menschenwürde-Verletzungen sind. Um sich dann auch noch mal vielleicht gerade in aktuellen politischen Debatten, in denen die Menschenwürde gern bemüht wird, vor Augen zu führen: Okay, das ist definitiv keine Menschenwürde-Verletzung.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Ich glaube, wir müssen doch aufpassen, dass wir das nicht zu kleiner Münze verkommen lassen. Und wir müssen auch sehen, dass die Menschenwürde so eine Art On-Off-Grundrecht ist. Also in dem Augenblick, wo ich einen Eingriff in die Menschenwürde bejahe, ist dieser nicht mehr zu rechtfertigen. Und das ist eben anders als bei allen anderen Grundrechten als bei den nachfolgenden Grundrechten. Selbst beim Lebensschutz kann am Ende noch mal eine Abwägung mit anderen Verfassungsgütern stattfinden. Das ist bei der Menschenwürde kategorisch ausgeschlossen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Und das leitet man her aus diesem besonderen Achtungs-Anspruch, den man eben nicht abwägen kann.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Richtig, genau. Und aus dem Wort unantastbar. Also in dem Augenblick, wo ich es antaste, ist es einfach- Das ist ein Wert, mathematisch-strukturell ein absoluter Wert. Und das ist eigentlich etwas, das wir in der Rechtsordnung nicht kennen. Und auch sozusagen Paragraf 79, Absatz drei Ewigkeitsgarantie. Ewigkeit ist auch ein absolutes Konzept. Das ist eigentlich kein Konzept, das in den Begrenzungen unserer Menschlichkeit Raum hat. Es gibt nichts Ewiges. Es gibt nichts Absolutes. Alles, was wir tun, steht in Beziehung und ist damit relativ. Nichts ist beziehungslos. Und diese Bedeutung, die die Verfassung der Menschenwürde einräumt, die unterstreicht es, indem sie sagt: "Wir setzen diesen Wert absolut, unabwendbar, nicht in Beziehung setzbar mit anderen Dingen, nicht ins Verhältnis setzbar". Und das führt dann aber dazu, dass es rechtlich schwer zu handhaben wird. In dem Augenblick, wo die Menschenwürde tangiert ist, ist im Prinzip die Prüfung zu Ende.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Das ist in diesem Fall ja besonders interessant. Denn in diesem Fall haben wir eine Situation, in der der damaligen Bundesregierung und dem damaligen Bundestag, aber auch sicher vielen Menschen deutlich vor Augen stand, dass man nicht möchte, dass in Deutschland ein Flugzeug in ähnlicher Form als Waffe verwendet wird, wie es am 11.09.2001 in den USA stattgefunden hat. Aber das hilft uns, jetzt noch einmal auf unseren Fall zurückzukommen. Wie geht das Bundesverfassungsgericht mit der klassischen Anwendung dieser Objekt-Formel auf unseren vorliegenden Fall um?

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Das Bundesverfassungsgericht zieht sie heran und es sagt, dass Paragraph 14, Absatz drei Luftsicherheitsgesetz mit Artikel zwei, Absatz zwei, Satz eins Lebensschutz in Verbindung mit Paragraf eins, Absatz eins Menschenwürde unvereinbar sei. Also zitiert die Menschenwürde hier nicht alleine, sondern kombiniert sie und sagt, dass 14 drei unvereinbar damit sei, dass der Staat, die Passagiere und die Besatzung eines Flugzeuges, das als Waffe eingesetzt werden soll, zum Objekt mache, wenn das Flugzeug zum Absturz gebracht werden soll. Besatzung und übrige Passagiere seien typischerweise in einer für sie ausweglosen Lage und können ihre Lebensumstände nicht mehr unabhängig von anderen beeinflussen. Sie können der Situation und damit auch dem Handeln des Staates, dem Abschuss, nicht ausweichen, sondern sind wehrlos und hilflos dieser Situation ausgeliefert mit der Folge, dass sie bei dem Abschuss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu Tode kommen werden.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay. Aber vielleicht enthäddern wir das noch mal. Wir haben hier letzten Endes ein Verhältnis von drei Gruppen. Wir haben die Terroristen und Terroristinnen, wir haben die Passagiere dieses Flugzeuges, die unbeteiligt sind. Aber wir haben ja noch eine dritte Gruppe, nämlich diejenigen Menschen, die dieser Abschuss schützen soll. Also stellen wir uns vor, Menschen, die in einem Fußballstadion versammelt sind, das jetzt Ziel eines solchen Angriffs sein soll. Für diese Menschen streitet ja die verfassungsrechtliche Schutzpflicht, also Artikel zwei, Absatz zwei, Satz eins. Zu deren Schutz soll dieses Flugzeug abgeschossen werden. Das ist auf jeden Fall ein Schutz, den wir berücksichtigen müssen. Und Sie hatten es ja selbst gesagt, das Bundesverfassungsgericht sieht kein Problem darin, in Anführungsstrichen, rechtlich gesehen hält es das für zulässig, dieses Flugzeug abzuschießen, soweit nur Terroristen darin sitzen. Dann hätten wir eine vergleichbare Konstellation wie in dem eingangs geschilderten Geiselnehmer-Fall. Warum gewichtet man jetzt das Leben und auch die Würde der Personen, die in dem Flugzeug sitzen? Und unbeteiligte Passagiere sind höher als das Leben der Fußballfans in dem Stadion, welches Ziel dieses Angriffs sein soll.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Das führt zu einem Grundsatz unserer Verfassungstradition und auch unserer Interpretation der Menschenwürde, nämlich dass wir Menschenleben nicht gegeneinander abwägen. Also mit anderen Worten machen wir Menschen nicht dadurch zum Objekt, dass wir sie zur Abwägung oder Verhandlungsmasse machen. Wir sagen nicht "100 Leben sind mehr wert als eins" oder "ein 80-jähriger ist weniger wert als ein 20-jähriger" oder "eine Todkranke ist weniger wert als ein gesunder Mensch". Diese Abwägungen sind verfassungsrechtlich, wenn sie jetzt anthropologisch sprechen wollen, durch die Menschenwürde garantiert tabuisiert. Wir entziehen sie durch die Absolutsetzung der Menschenwürde der Verhandelbarkeit. Das sind Dinge, über die wir nicht sprechen können. Wir wägen nicht ab. Wie wir mit Menschen umgehen, die sich in so einer Situation, einer unmittelbaren Gewissensnot ausgesetzt sehen, das ist eine andere Frage. Nur das, was wir mit abstrakt generellen Normen machen, da können wir nicht über solche Dinge befinden.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Also das erinnert mich an diese in meiner Rechtsphilosophie Vorlesung klassifizierte Situation, in der man einen Zug hat, der unaufhaltsam das Gleis herunter rast und es zwei Möglichkeiten gibt: Entweder tötet dieser Zug 100 Menschen oder man kann eine Weiche umlegen und es geht auf ein anderes Gleis und tötet auf jeden Fall auch einen anderen Menschen. Das beschreibt diese besondere Dilemma-Situation. Die Bundesregierung hat damals aber vorgetragen, dass diese Gegenüberstellung hier nicht so richtig passt. Sie meinte damals, die unbeteiligten Passagiere im Flugzeug, die sind ja ohnehin dem Tod geweiht. Das heißt, sie müssten doch aus der Gleichung herausgenommen werden, weil sie ohnehin abstürzen werden, mit den Terroristen, die dieses Flugzeug zur Waffe verwenden. Warum geht das Bundesverfassungsgericht diesen Weg nicht mit?

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Ja, weil das Bundesverfassungsgericht sagt, die Achtung der Menschenwürde ist nicht abhängig von der erwarteten Lebensdauer. Also ob ich jetzt auch todkrank bin und nicht klar ist, ob ich den nächsten Morgen noch erlebe. Das macht nichts für meine Menschenwürde, mein Leben und den Wert meines Lebens. Für mich können die fünf Minuten am Ende meines Lebens vielleicht alles überwiegen, was ich vorher erlebt habe. Das weiß man alles nicht. Und das ist auch nicht am Staat, nicht an der Gesellschaft, nicht an der Gemeinschaft, diese Fragen zu beantworten, sondern an uns, das ist der Anspruch. Wir verlangen von allen, dass sie den Anspruch achten, menschenwürdig behandelt zu werden. In dem Zusammenhang mit der Luftsicherheitsgesetz-Entscheidung muss man eigentlich auch den Daschner-Fall sehen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Was ist da passiert?

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Im Daschner-Fall? Da ging es um die Entführung eines Bankier-Sohns, Jakob von Metzler. Der Jurastudenten Magnus Gäfgen hat das Kind entführt, umgebracht und dann Lösegeld verlangt. Die Polizei musste aber davon ausgehen, dass das Kind noch am Leben war, aber in einer hilflosen Situation. Und Herr Daschner war Vize-Polizeipräsident von Frankfurt, wenn ich mich richtig erinnere. Dieser hat dann angeordnet, dass man Herrn Gäfgen mit Schmerzen, wie er sie sich nicht vorstellen könne drohen solle, damit er das Versteck des Kindes preisgebe. Das ist im Prinzip und wurde dann später in der Aufarbeitung dieser Situation, als Androhung von Folter interpretiert. Daschner hat das alles selbst dokumentiert und wurde dann als Androhung von Folter und damit auch als Menschenwürde-Verletzung interpretiert. Und da muss man eben "nein" sagen. Also auch in diesen Extremsituationen bleibt es dem Staat verwehrt, den Achtungs-Anspruch der Menschenwürde zu verletzen. Wir schützen hier sozusagen ein Gut, das größer ist als das einzelne Leben. Das Bundesverfassungsgericht sagt: „Wir lassen uns als Gemeinschaft nicht von den Terroristen unseres Kernwertes berauben". Wenn ich in dem Augenblick den Wert aufgebe, dann erreichen die Terroristen mit ihrem Terror ja, dass ich den obersten Wert beiseiteschiebe.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Ja.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Ja. Und da sagt das Bundesverfassungsgericht: "Nein, unter keinen Umständen". Keine Folter, keine Abwägung gegen Leben. Das ist alles rechtlich nicht möglich. Und dann sagt man aber: "Ja, jetzt gucken wir uns den einzelnen Menschen an" und Daschner war ein vorbildlicher Polizist. Alles, wirklich seine ganze Laufbahn, alles war perfekt. Und er sieht sich jetzt in dieser Extremsituation als Mensch. Er hat alle Möglichkeiten ausgeschöpft, den Aufenthaltsort dieses Kindes herauszufinden. Er ist jetzt unter unglaublichen Druck. Und diesen Druck, den berücksichtigen wir bei der Strafzumessung, bei der Strafbarkeit. Und das ist auch bei dem von Ihnen geschilderten Weichenarbeiter-Fall die Frage. Also wenn der Zug vorher auf dem Gleis war, um die 100 Leute zu überfahren, ohne dass irgendwer da etwas getan hat, dann ist der Weichenarbeiter nicht strafbar. In dem Augenblick, wo er die Weiche umstellt, wird er kausal für die Tötung des einen Menschen auf dem anderen Gleis, das heißt, er verwirklicht tatbestandlich einen Totschlag. Und die Rechtsordnung muss daran festhalten. Bei der Strafzumessung kann ich aber sagen: "Okay, du armer Mensch, du warst in Gewissensnot, was hätte ich an deiner Stelle gemacht?" Und dabei kann ich eben berücksichtigen, hast du, armer Mensch, das gemacht wegen deiner Gewissensnot oder weil deine Schwiegermutter auf dem anderen Gleis stand, die du schon immer loswerden wolltest? Das sind Sachen, die kann ich nicht abstrakt generell berücksichtigen, aber die kann ich sozusagen in der Einzelfallentscheidung durchaus mit im Kontext berücksichtigen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Das ist wahnsinnig spannend, was Sie beschreiben. Ich erinnere mich an eine Diskussion mit israelischen und US-amerikanischen Juristen auf einer Tagung in Israel vor vielen Jahren. In einem ähnlichen historischen Kontext, in dem die israelischen Juden damals meinten: "Also ihr Deutschen seid ja lustig mit eurer Menschenwürde, ihr tragt die vor euch her wie eine Monstranz. Sie ist unabweisbar, absolut. Aber wenn es dann darauf ankommt-" Fall Daschner war Ihnen allen bekannt, "-dann lasst ihr sie irgendwie letzten Endes in ihrer Konsequenz unter den Tisch fallen", so die Argumentation. Denn das Strafmaß, das gegen Herrn Daschner verwendet wurde, war gelinde gesagt sehr milde.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Es war die unterst mögliche. Da war man sich völlig einig. Die unterst mögliche aufgeworfene Strafe. Man konnte nicht weniger auswerfen, er war auch unter Strafvorbehalt. In der Tat hat das EGMR es dann später in der Rechtsprechung auch kritisiert. Aber ich glaube, das lag auch an Daschner. Daschner hat seinen Gewissenskonflikt sichtbar gemacht. Er hat es dokumentiert, er hat sich selbst angezeigt, er war geständig, er hat zur Aufklärung beigetragen. Stellt man sich einen anderen Fall vor, beispielsweise Herrn Faschner, der Zwillingsbruder von Herrn Daschner, der als Polizist vielleicht eine dunkle Akte hat und dem man eine sadistische Neigung nachweisen kann, ist die Story eine komplett andere. Der wird richtig verknackt. Das sind die Grenzsituationen des Lebens und das sind auch Grenzsituationen für das Recht. Und da muss das Recht gucken, es darf, glaube ich, den Wert der Menschenwürde nicht kompromittieren. Und ich glaube, das ist sehr richtig. Also das ist ein Tabu aus guten Gründen. Natürlich muss man das Leben trotzdem pragmatisch leben. Und man muss mit Menschen umgehen, die vielleicht aus guten Motiven handeln. Ich finde das sehr interessant, weil sie die israelische Dimension mit eingebracht haben. Es gibt Stimmen, die sagen, dass das Nie wieder, welches wir am Anfang unseres Gesprächs angesprochen haben, das bedeutet für die Deutschen nie wieder Täter sein. Wie können wir verhindern, jemals wieder solches Leid über die Menschheit zu bringen? Bei den Israelis und auch als Staatsräson Israels ist möglicherweise die Logik eine andere. Möglicherweise ist die Logik nie wieder Opfer zu sein. Und es hat vielleicht andere Konsequenzen, wenn man sozusagen aus der Perspektive schaut. Ich glaube, dass der Vorwurf Ihrer Kolleginnen und Kollegen in Israel und aus den USA ein Stück weit zutreffend ist. Das ist vielleicht auch die Natur von Tabus.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Das Tabu, was Sie beschrieben haben, führt gewissermaßen ja auch dazu, dass wir diese Gewissensentscheidung berücksichtigen können, aber zugleich uns nie der Situation preisgeben, dass dieser absolute Höchstwert mit seiner kategorialen Bedeutung abhandenkommt.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Absolut, genau. Wir müssen das pragmatisch im alltäglichen Leben sehen. Und das bedeutet, wenn wir den Verkehr zulassen, wenn wir Kernenergie oder überhaupt industrielle Tätigkeiten zulassen, dann ist die Frage, welchen Wert messen wir dem Menschenleben bei? Und diesen Wert kann man ausrechnen. Und er wird ausgerechnet. Also man kann sagen, in Westeuropa ist ein Menscheneben irgendwo zwischen zwei und drei Millionen Euro wert. Das sind die Grenzkosten des Menschenlebens. Mit anderen Worten, wie viel sind wir als Gesellschaft bereit zu investieren, um ein weiteres Menschenleben zu retten? Also den Verkehr sicherer zu machen, eine zusätzliche Ampel auf die Kreuzung zu bauen, einen zusätzlichen Betonring um einen Kernreaktor zu bauen. Und so weiter. Und das kann man ausrechnen, das rechnen Volkswirte aus. Und damit könnte man sagen: "Ja, ein durchschnittliches deutsches Leben ist zweieinhalb Millionen Euro wert". Das tun wir aber aus gutem Grunde nicht, weil es auch mit dem Anspruch der Menschenwürde nicht vereinbar ist, Preisschilder an menschliche Leben zu hängen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Und vielleicht lässt sich die Konsequenz dieser Diskussion auch ganz plastisch verdeutlichen an den Vereinigten Staaten. Die ja direkt getroffen waren von dem Angriff und die traumatisierende Wirkung, die ein solcher Angriff für eine Nation haben muss, den können wir sicherlich so nicht einschätzen. Aber die Folgejahre haben gezeigt, dass im Versuch der Amerikaner, mit den Bedrohungen und auch den Tätern und Täterinnen im Hintergrund umzugehen. Dass die Amerikaner in dieser Situation, das ist durch die CIA Folter-Dokumente hinreichend belegt, eigentlich alles aus dem Fenster geworfen haben, was an rechtsstaatlichen Beschränkungen von Übergriffen auch in ihrer Verfassung und Verfassungsordnung angelegt ist.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Und das ist die bittere Ironie. Also dass der Angriff, der als Angriff auf unsere Werte gedacht war, sozusagen von uns vollendet wird. Das müssen wir vermeiden. Also ich glaube, das ist wirklich gerade der Clou in diesem Augenblick. In diesem schwerstmöglichen Augenblick diese Werte weiter hochzuhalten und sie nicht über Bord zu schmeißen. Das ist die Bedeutung zu diesen Werten zu stehen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Das ist auch die Bedeutung dieser grundlegenden Entscheidung. Lieber Professor Towfigh, vielen Dank, dass Sie uns Ihre Zeit gewidmet haben diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorzustellen.

PROF. EMANUEL TOWFIGH: Es war mir, wie immer, ein großes Vergnügen, Herr Neubert. Vielen Dank.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Ihnen vielen Dank!

Erwähnte Gerichtsentscheidungen

Das Urteil des BVerfG vom 15.02.2006 im Original findet ihr hier. Die Besprechung des Urteils in der Jurafuchs App findet ihr hier.

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