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Streikrecht in der Daseinsvorsorge („GDL-Lokführerstreik“) – mit Prof. Lena Rudkowski

Jurafuchs Podcast #011 | Unter welchen Voraussetzungen darf eine Gewerkschaft in einem Unternehmen der Daseinsvorsorge streiken? | LAG Hessen, Urteil vom 03.09.2021 - 16 SaGa 1046/2

Zusammenfassung

Anfang September 2021 streikte die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL). Massive Einschränkungen im deutschlandweiten Bahnverkehr waren die Folge. Die betroffenen Unternehmen des Bahnkonzerns versuchten, den Streik der GDL gerichtlich untersagen zu lassen. Das Hessische Landesarbeitsgericht aber entschied, dass der Streik der GDL rechtmäßig war und durchgeführt werden durfte (Urteil vom 03.09.2021 - 16 SaGa 1046/21).

Professorin Lena RudkowskiInhaberin der Professur für Bürgerliches Recht und Arbeitsrecht an der Justus-Liebig-Universität Gießen, nimmt den Fall zum Anlass, um die Grundlagen und Funktionen des Streikrechts zu erläutern. Sie macht greifbar, wie eine Gewerkschaft sich dazu entschließt, in den Streik zu gehen, und welche Ziele eine Gewerkschaft mit einem Streik zulässigerweise verfolgen darf. Dabei erklärt Frau Professorin Rudkowski, warum die GDL streiken durfte, obwohl sie im Bahnkonzern neben der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) die kleinere Gewerkschaft ist. Sie legt auch dar, warum selbst in Betrieben der Daseinsvorsorge gestreikt werden darf, obwohl die Auswirkungen des Streiks erheblich sein können. Abschließend ordnet Frau Professorin Rudkowski das deutsche Streikrecht auch in den internationalen Kontext ein.

Interview (Transkript)

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Willkommen bei Spruchreif, dem Rechtsprechungspodcast von (?Nora) Fuchs in Kooperation mit dem Nomos Verlag. Mein Name ist Wendelin Neubert und zusammen mit meinen Gästen gehe ich dem Kontext und den Hintergründen aktueller Gerichtsentscheidungen auf die Spur.

PROF. LENA RUDKOWSKI: Wer einen Tarifvertrag abschließen darf, der muss auch streiken dürfen. Von der Verfassung her ist Wettbewerb der Gewerkschaften angelehnt. Das Streikrecht als Schranken dieses Grundrecht muss in Abwägung gestellt werden mit kollidierenden Grundrechten des Arbeitgebers oder eben vor allem im Bereich der Daseinsvorsorge mit den Rechten Dritter.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Mein Gast ist Professorin Lena Rudkowski. Sie ist Inhaberin der Professur für Bürgerliches Recht und Arbeitsrecht an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seien Sie herzlich willkommen!

PROF. LENA RUDKOWSKI: Hallo und vielen Dank für die Einladung.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Schön, dass Sie bei uns sind.

PROF. LENA RUDKOWSKI: Ja, vielen Dank.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wir sprechen über einen Fall, der Deutschland im vergangenen Sommer in Atem gehalten hat. Anfang September 2021 streikte die Gewerkschaft der Lokführer unter ihrem öffentlich sehr bekannten Chef Weselsky und erhebliche Einschränkungen im Bahnverkehr waren die Folge. Viele Bahnkundinnen und Kunden waren über den Streit not amused. Der Fall beschäftigte auch die Arbeitsgerichte. Und am 3. September 2021 entschied das Hessische Landesarbeitsgericht, dass der Streit der GDL rechtmäßig ist. Liebe Frau Professorin Rudkowski, könnten Sie uns bitte einmal mitnehmen in den Sachverhalt? Was ist damals passiert?

PROF. LENA RUDKOWSKI: Ja, wie Sie schon sagten, es ging um den Tarifkonflikt 2021 zwischen der Gewerkschaft der Lokomotivführer, der GDL und der Deutschen Bahn. Die GDL wollte einen neuen Tarifvertrag durchsetzen und nachdem die Verhandlungen eben nicht so liefen, wie die GDL sich das gewünscht hatte, griff man dann zum Mittel des Streiks. Und die Arbeitgeberinnen beziehungsweise der Arbeitgeberverband, um den es hier geht, der versuchte den Streik gerichtlich unterbinden zu lassen im Wege des Eilrechtsschutzes, eben vor dem zuständigen Arbeitsgericht. Und das zuständige Arbeitsgericht hat dann eben entschieden, dass dieser Verfügungsanspruch nicht besteht und dass also der Streik stattfinden darf.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay. Vielleicht noch mal einen Schritt zurück, damit wir uns die Situation noch ein bisschen besser vorstellen können. Wie läuft denn so ein Streik ab? Wie kommt es innerhalb einer Gewerkschaft zu so einem Streik?

PROF. LENA RUDKOWSKI: Das ist natürlich immer eine verbandspolitische Entscheidung, die da zu treffen ist auf Basis der eigenen Satzung. Also die Gewerkschaft hat eine Satzung, die legt fest, was sind Ihre Ziele, wie sie zuständig, was für Ziele hat sie und wie findet die Beschlussfassung intern statt. Und die Gewerkschaft hat natürlich zum Ziel Tarifverträge abzuschließen und für ihre Mitglieder möglichst viel rauszuholen. Die Verfassung sagt dazu in Artikel neun drei Grundgesetz Es geht um die Wahrung und Förderung der Arbeitsbedingungen. Also man soll die Interessen der Arbeitnehmer vertreten, die Interessen der Mitglieder vertreten und das macht man von Seiten der Gewerkschaft durch Abschluss eines Tarifvertrages, wo dann eben auf kollektiver Ebene die Arbeitsbedingungen geregelt sind. Das ist quasi wie eine Art Arbeitsvertrag, nur dass er für ganz, ganz viele Arbeitnehmer, für alle Mitglieder der Gewerkschaft dann unmittelbar Anwendung findet. Und die Überlegung ist dann eben, wenn man einen Tarifvertrag hat, der dann vielleicht beendet, gekündigt oder auch ausgelaufen ist, dass man wieder einen neuen Tarifvertrag bekommt. Jetzt gerade wird das bestimmt sicher sehr heikel in der nächsten Tarifrunde. Aufgrund der Inflation will man die Verluste der Mitglieder ausgleichen und dies geschieht durch eine Tarifforderung im Tarifvertrag, wo die Höhe des Entgeltes geregelt wird. Genau auf dieses Entgelt wird höchster Wert gelegt, denn hier muss man die Arbeitszeiten, die Verteilung der Arbeitszeiten und auch den Urlaub beachten. Hier muss sich die Gewerkschaft überlegen was sie fordern können, was sie durchsetzen können und wie hoch die mindest sowie maximale Schmerzgrenze ist. Nach diesen Überlegungen trägt man die Vorstellungen beim Arbeitgeber vor und dieser sagt typischerweise gleich einmal nein. Aus diesen nein entstehen dann Verhandlungen. Man setzt sich zusammen, verhandelt und versucht eine Lösung zu finden. Lässt sich laut der Gewerkschaft keine Lösung finden, das heißt der Arbeitgeber bewegt sich nicht in die geforderte Richtung, dann wird die Gewerkschaft in Erwägung ziehen, in den Streik zu ziehen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay, und dann fragt sie ihre Mitglieder in einer internen Abstimmung und die Mitglieder müssen dann sagen Ja oder nein.

PROF. LENA RUDKOWSKI: Sie sprechen die sogenannte Urabstimmung an, also die Befragung der Mitglieder, wollt ihr den Streik? Das kann die Gewerkschaft machen, wenn es in ihrer Satzung so verfasst wurde und somit als Vorgabe gegeben wird, muss sie jedoch nicht. Das geltende Recht verlangt es nicht von ihr aber sie kann das machen. In den meisten Fällen wollen die Mitglieder das dann auch. Als Verbandspolitiker müssen sie natürlich beachten, dass sie nur zu einem Streik aufrufen, wenn das dann auch von allen Mitgliedern getragen ist.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Ja und Protagonistin unseres Falles ist jetzt die Gewerkschaft der Lokführer. Die war vor ich glaube acht Jahren oder so circa schon mal sehr in den Medien, ist jetzt wieder in den Medien gewesen. Ist die GDL denn die einzige Gewerkschaft im Bereich der Bahn?

PROF. LENA RUDKOWSKI: Nein, da gibt es noch die EVG. Das ist sogar die größere der beiden Gewerkschaften. Aber die GDL, die kämpft um Anerkennung, die kämpft sehr stark um Mitglieder und deswegen ist sie eben die, die in der öffentlichen Aufmerksamkeit auch deutlich stärker erscheint.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay. Okay, wie lange wurde denn letztlich gestreikt? Nur dass wir das mal einordnen können. Danach wurde ja wahrscheinlich dann auch eine Lösung gefunden.

PROF. LENA RUDKOWSKI: Gestreikt wurde in mehreren Häppchen, wenn Sie so wollen, von jeweils ein paar Tagen. Einen typischen Streik mit längerer Dauer haben wir so in Deutschland nicht. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Lassen Sie uns mal in die rechtliche Bewertung des Falles einsteigen und zum Start wäre es toll. Könnten Sie uns vielleicht einmal die Grundlagen des Streikrechts skizzieren? Wo ist das Streikrecht verankert? Was sind die Funktionen? Wo kommt das her?

PROF. LENA RUDKOWSKI: Ja, sie machen das schon genau richtig. Ja, der Jurist fragt immer, wo steht es denn? Und da ist leider die Antwort nirgends. Also das Streikrecht ist gesetzlich nicht geregelt. Der Gesetzgeber scheute da immer davor zurück, das Streikrecht umfassend zu regeln. Und das Einzige, was wir da haben, ist tatsächlich die Verfassungsbestimmung Artikel neun drei Grundgesetz Koalitionsfreiheit. Die gewährleistet das Streikrecht auch nicht mal ausdrücklich, sondern sagt nur, es besteht eben das Recht zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Koalitionen zu gründen, zu bilden, die zu betätigen. Und daraus leiten wir dann aber her, wer einen Tarifvertrag abschließen darf, der muss auch streiken dürfen, weil wir sonst als Arbeitnehmerseite kein Druckmittel hätten auf den Arbeitgeber und streiken wir dann, sagt das Bundesarbeitsgericht nur kollektives Betteln. Aus diesem Grund erkennen wir das Streikrecht an, auch wenn es nirgends steht, und die Voraussetzung der Rechtmäßigkeit eines Streiks seine Rechtsfolgen. Das ist alles Richterrecht. Das macht letztlich im Wesentlichen das Bundesarbeitsgericht, hier leitend aus Artikel neun drei Grundgesetz. Und da gibt es eben bestimmte Voraussetzungen, die sich herauskristallisiert haben, die teilweise auch umstritten sind, aber die man so abklopfen würde. Wenn in der Praxis, der Arbeitgeber einen Streik irgendwie unterbinden will, dann ist der erfolgsversprechende Ansatzpunkt, gerichtlich gesehen, der Verstoß gegen eine tarifliche Friedenspflicht. Das ist das, wo Sie praktisch die besten Erfolgschancen haben. Aber es gibt natürlich noch viele weitere Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Daraus entnehme ich nicht jeder Streik ist rechtmäßig. Wann ist denn ein Streik rechtmäßig?

PROF. LENA RUDKOWSKI: Da gibt es bestimmte Voraussetzungen. Also zum Beispiel muss er zuerst einmal gewerkschaftlich getragen sein. Das hatten wir jetzt zuletzt in Berlin bei den Lieferdiensten. Ich weiß nicht, ob Sie das verfolgt haben, wo also die Arbeitnehmer aus Unzufriedenheit einfach die Arbeit niedergelegt haben. Das funktioniert so nicht, sondern sie brauchen eine Gewerkschaft, die den Streik übernimmt, die für den Streik einsteht und die den trägt und eben auch organisiert und gegebenenfalls dann auch die Arbeitnehmer vielleicht ein bisschen mäßigt. Und das Ganze ordentlich ja, denn in Deutschland muss ja das Ganze ordentlich durchgeführt sein. Die zweite Voraussetzung ist das tariflich regelbare Ziel. Also Ziel der ganzen Aktion, muss der Abschluss eines Tarifvertrages sein. Was in dem Tarifvertrag dann gefordert wird, ob sie 30  Prozent oder 100  Prozent mehr Lohn fordern, das schauen wir uns nicht an, wir schauen nur ob es überhaupt in einem Tarifvertrag regelbar ist, wenn ja, dann ist es zulässig. Und dann gibt es die Voraussetzung, dass der Streik nicht gegen eine Friedenspflicht, eine tarifliche Friedenspflicht, verstoßen darf. Also er darf einen bestehenden Tarifvertrag nicht in Frage stehen. Wenn Sie einen Tarifvertrag haben, dann muss der auch erst mal durchgeführt werden. Dann können Sie nicht einfach wild drauf los streiken? Und das ist, wo man die seminaristischen Hausarbeiten oder die Dissertation darüber schreibt, nämlich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Das heißt, dass Streiks verhältnismäßig sein müssen . In der Praxis spielt das nicht so eine große Rolle aber die Wissenschaft schaut da sehr stark drauf.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay, toll. Dann werden wir uns gleich mal diesen einzelnen Voraussetzungen an unserem Fall noch ein bisschen genauer nähern. Sie sagten also zunächst bedarf es eines zulässigen Streik-Ziels. Arbeitskämpfe können nur zur Durchsetzung tarifvertraglich regelbare Ziele durchgeführt werden. Warum ist das so und was hat das konkret zur Folge? Wann ist beispielsweise ein Tarifvertrag, also ein Inhalt, nicht mehr rechtmäßig?

PROF. LENA RUDKOWSKI: Wenn er zum Beispiel diskriminierend wäre, wenn er gegen irgendein gesetztes Recht verstieße. Wenn Sie jetzt sagen, wir verlangen vom Arbeitgeber, er stellt keine Frauen mehr ein, das schreiben wir in den Tarifvertrag rein. Das wäre offensichtlich rechtswidrig, weil das diskriminierend wäre. Also könnten Sie das nicht erstreiten, was auch rechtswidrig wäre. Das wären Forderungen zu erheben, die der Arbeitgeber selbst gar nicht erfüllen kann, weil er formal nicht der zuständige Adressat ist. Also wenn Sie jetzt sagen, wir streiken gegen Corona-Maßnahmen, gegen die Bundes und Landesgesetzgebung in dem Bereich, dann kann der Arbeitgeber das nicht erfüllen, dann ist es kein tariflich regelbares Ziel, dann sind Sie an der Stelle raus.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay, und wie lag das im vorliegenden Fall?

PROF. LENA RUDKOWSKI: Da war es überhaupt gar kein Problem. Also da ging es einfach um das Übliche, was in einem Tarifvertrag geschrieben steht. Vor allen Dingen, da gucken alle drauf, der Lohn.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay. Welche Rolle spielt es jetzt hier dabei, dass die GDL im Bahn Konzern oft als die kleinere Gewerkschaft charakterisiert wird im Verhältnis zur offenbar mitgliederstärkeren EVG?

PROF. LENA RUDKOWSKI: Ja, die EVG ist die Mitglieder stärkere und da gibt es eine gesetzliche Regelung, Paragraph vier ATVG.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Das ist das Tarifvertragsgesetzbuch.

PROF. LENA RUDKOWSKI: Genau, das ist das Tarifvertragsgesetz und es kann im geltenden Recht die Situation eintreten, dass der Arbeitgeber in seinem Betrieb mehrere Tarifverträge nebeneinander anzuwenden hat. Theoretisch ein Ausgangspunkt: Wenn Sie als Arbeitnehmer Mitglied einer Gewerkschaft sind, haben Sie vielleicht Kollegen diese Mitglieder in einer anderen Gewerkschaft und jeder hat Anspruch darauf, dass seine tariflichen Arbeitsbedingungen grundsätzlich mal Anwendung finden. Das gefiel der Rechtsprechung nicht und deswegen hat man gesagt, dass es einen Grundsatz der Tarifeinheit geben soll. Also wir wollen nicht, dass ganz viele Tarifverträge im Betrieb Anwendung finden, sondern nur einer. Das war unser Ausgangspunkt bis 2010. Ich habe mal gesagt, es gilt der sachnächste Tarifvertrag. Also wenn Sie vielleicht eine Reinigungskraft haben, die ist in der Dienstleistungsgewerkschaft, ist aber beschäftigt in einem Betrieb der metallverarbeitenden Industrie, dann gilt der Metall Tarifvertrag und nicht der Tarifvertrag, den Sie vielleicht aufgrund Ihrer Dienstleistungsgewerkschaft eigentlich auf ihr Arbeitsverhältnis angewendet finden möchte, weil der Metall Tarifvertrag im Metall Betrieb der Sachnähere ist. Da hatte dann das Bundesverfassungsgericht und das Bundesarbeitsgericht Bedenken wegen der Verfassungsmäßigkeit dieses Ansatzes. Das Bundesarbeitsgericht hat den Grundsatz der Tarifeinheit dann aufgegeben und in der Folge hat der Gesetzgeber sich überlegt, wie er den irgendwie doch noch in etwa halten kann.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Warum? Gibt es denn dieses Bedürfnis nach der Tarifeinheit? Was steht dahinter? Wovor hat man Angst, was passieren könnte, wenn man den Grundsatz der Tarifeinheit nicht hätte?

PROF. LENA RUDKOWSKI: Die Arbeitgeberseite hat natürlich Angst. Das es chaotisch wird in der Lohnbuchhaltung, etwa in der Organisation, wenn sie mehrere Tarifverträge im Betrieb haben, die vielleicht unterschiedliche Arbeitsbedingungen vorsehen. Das lässt sich ganz plastisch bei der Bahn auch zeigen, wenn Sie bei einem Unternehmen was wie die Bahn eben sehr stark auf Dienstpläne rund um die Uhr ausgelegt ist. Und dann haben sie einen, der arbeitet laut Tarifvertrag vielleicht nur 36,5 und die andere tarifliche Arbeitszeit 37 Stunden. Und der eine darf- also, wenn sich das da unterscheidet, dann gibt es eben in der Verwaltung unter Umständen eben Schwierigkeiten bei der Arbeitszeitverteilung, die Lohnbuchhaltung wird vielleicht aufwendiger. Davor hat man Angst. Man hat aber auch Angst vor einer Art Dauerarbeitskampf. Also dass ständig irgendeine Gewerkschaft an den Arbeitgeber herantritt und sagt so, jetzt wir jetzt auch noch und das wollte man vermeiden.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Und dafür- hat dann der Gesetzgeber diesen Paragraphen vier A Absatz zwei Tarifvertrags jetzt geschaffen. Was sagt der jetzt genau?

PROF. LENA RUDKOWSKI: Der will den Grundsatz der Tarifeinheit in etwa also nicht ganz fortschreiben. Der Grundsatz ist jetzt, dass der Mehrheitstarifvertrag sich durchsetzt. Das heißt, es können in einem Betrieb mehrere Tarifverträge nebeneinander bestehen. Allerdings ist anwendbar nur der Tarifvertrag, der auf die meisten Arbeitnehmer im Betrieb anwendbar ist. Das entscheidet sozusagen die Mehrheit. Die anderen Tarifverträge sind nicht unwirksam, aber die treten dann eben zurück, solange es diesen Mehrheitstarifvertrag gibt.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Macht das dann zur Folge, dass wenn ich jetzt die Minderheitsgewerkschaft bin, ich auch nicht für einen neuen Tarifvertrag streiten darf.

PROF. LENA RUDKOWSKI: Darüber kann man sich sehr gut streiten, ob sie das dürfen. Man kann sagen, warum wollen Sie einen Tarifvertrag erstreiten, der am Ende nicht anwendbar ist. Richtigerweise wird man aber sagen müssen, er existiert aber, und solange er existiert, müssen sie ihn auch erstreiten können und es besteht ja die Möglichkeit, dass er beim Wegfall des Mehrheitstarifvertrags dann sozusagen wieder auflebt und auch Anwendung findet und dann müssen sie ihn auch erstreiten können.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay. In der öffentlichen Auseinandersetzung im vergangenen Spätsommer war es ja so, dass die GDL öffentlichkeitswirksam sagte, naja also wer sagt eigentlich, dass wir nicht die Mehrheit haben? Und da ist, glaube ich, eine Frage, die aufkommt, die sich auf die Anwendbarkeit dieser Vorschrift bezieht. Also wie ermittle ich eigentlich, ob ich jetzt die Mehrheitsgewerkschaft bin oder einen Tarifvertrag habe, der für die Mehrheit der Beschäftigten im Betrieb gilt?

PROF. LENA RUDKOWSKI: Ja, das ist praktisch der Tat die heikelste Frage an diesem Paragrafen vier ATVG. Zum einen ist die Bezugsgröße der Betrieb, also sie müssen die Mehrheit der Arbeitnehmer in diesem Betrieb vertreten. Da müssen wir jetzt mal schauen, was ist das eigentlich, ein Betrieb? Das Gesetz gibt uns das nicht vor, aber wir können uns das herleiten aus anderen Gesetzen, können sagen Das übertragen wir einfach. Das ist Punkt 1. Punkt 2: Der Arbeitgeber hat eine gewisse Organisationshoheit, kann also natürlich auch irgendwie festlegen durch Festlegung der Leitungsebene, was ist ein Betrieb? Und schließlich darf der Arbeitgeber nicht fragen, sind Sie Gewerkschaftsmitglied? Das heißt, der Arbeitgeber darf das eigentlich gar nicht wissen. Also müssen wir irgendwie einen Weg finden, die Mitgliederzahlen zu erheben, ohne dass der Arbeitgeber Namen erfährt. Das ist eine schwierige Sache, hier wird man Geheimschutzmaßnahmen im Prozess ergreifen müssen. Das ist alles rasend aufwendig.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay. Das heißt für unseren vorliegend Fall ist es so gewesen, dass das Streik-Ziel, also die Erstreickung eines- das (?Abstoßen) eines Tarifvertrags von Seiten der GDL zulässig war und hier also der vier A Absatz zwei Tarifvertrags jetzt nicht entgegenstand.

PROF. LENA RUDKOWSKI: Genauso ist es.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Diese Friedenspflicht. Wann ist denn die Friedenspflicht, die Sie gerade benannt hatten, betroffen oder verletzt? Kommt es überhaupt je dazu, dass ein Arbeitgeber, eine Gewerkschaft sich an den Tarifvertrag, den sie ja selbst mit abgeschlossen und erstritten hat, nicht hält?

PROF. LENA RUDKOWSKI: Ja, also die Friedenspflicht, die folgt aus dem Tarifvertrag, der abgeschlossen wurde, ohne dass sie vereinbart werden müsste, die ist dem sozusagen immanent. Man könnte auch sagen, Pacta sunt servanda, Verträge müssen gehalten werden. Und dann kann es aber passieren. Diese Tarifverträge sind häufig sehr komplex und bestehen aus mehreren Einzelwerken, beispielweise ist das eine Urlaub und das andere Werk für Arbeitszeiten, das sind richtig große Werke. Und da kann es passieren, dass sie vielleicht für das einen, den einen Bereich schon ein Recht zur Kündigung haben oder eine Regelung läuft aus, die war vielleicht nur befristet und dann greifen Sie die auf und wollen da eine neue Regelung. Dann kann es passieren, dass Sie in ihrem umfassenden Forderungskatalog vielleicht an einem Punkt etwas regeln wollen, etwas fordern, was schon im Tarifvertrag geregelt ist. Das haben Sie dann einfach übersehen. Das kommt tatsächlich in der Praxis vor. Einfach weil in der Öffentlichkeit wird einfach immer nur ganz kurz wiedergegeben Tarifforderungen 7  Prozent oder so, aber das ist es nicht, sondern da kommt ein ganzer Forderungskatalog, der dann en Detail ausgehandelt wird. Da kann man schon mal versehentlich einfach was in Frage stellen, was im Tarifvertrag bereits geregelt ist. Und dann kommt es zu einem Verstoß gegen die Friedenspflicht, weil eben der Streik den bestehenden Tarifvertrag nicht in Frage stellen darf.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Dann hat sich aber die Bahn der GDL vorgeworfen, es handelt sich jetzt um einen rechtswidrigen Unterstützungsstreik. Was ist denn ein Unterstützungsstreik?

PROF. LENA RUDKOWSKI: Eine Unterstützungsstreik ist ein Streik, der altruistisch, also für einen fremden Arbeitskampf geführt wird. Die Arbeitnehmer eines Betriebes legen die Arbeit nieder, um einen fremden Arbeitskampf zu unterstützen. Kann sogar ein Arbeitskampf einer anderen Gewerkschaft sein. Kann auch ein Arbeitskampf derselben Gewerkschaft, in einem anderen Betrieb sein. Könnte zum Beispiel sein, wenn die Redakteure der Zeitung streiken und keinen Erfolg haben, dass etwa die Drucker dann die Arbeit niederlegen, um also diesen Streik zu unterstützen. Das ist im deutschen Recht nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass sie einen Unterstützungsstreik führen. Allerdings muss er auch bestimmte Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen erfüllen, das heißt unter anderem muss er eben auch verhältnismäßig sein und hängt sozusagen in gewisser Weise von diesem Hauptarbeitskampf auch ab. Also wenn Sie schon einen rechtswidrigen Hauptarbeitskampf führen, dann ist der Unterstützungsstreik natürlich auch rechtswidrig. Ich meine aber, das war hier ohnehin kein Unterstützungsarbeitskampf in dem konkreten Fall. Auch das Gericht hat das eben so gesehen, weil diese- dieser Vorwurf des Arbeitgebers, sie führen einen Unterstützungsstreik, der beruhte letztlich darauf, dass die GDL vorwiegend Lokführer vertritt, aber auch andere Leute aufgerufen hatte zum Streik, also etwa Personen in Werkstätten. Und da wollte der Arbeitgeber daraus herleiten, dass das also ein Unterstützungsstreik ist. Die Werkstätten streiken zur Unterstützung der Lokführer oder des Bordpersonals der Züge. Die GDL hatte allerdings auch Streikforderungen gerade eben außerhalb der- dieses Zugpersonals erhoben. Also die wollte sich ausweiten in ihrem, in ihrem Tätigkeitsbereich. Die gilt ja in der öffentlichen Wahrnehmung als Lokführergewerkschaft, aber da ist sie Kraft Satzung schon längst nicht mehr darauf festgelegt, sondern sie versteht sich jetzt sozusagen als Eisenbahngewerkschaft, mit allem, was dazugehört, das heißt Infrastruktur, Werkstätten. Und in dem Augenblick, in dem sie aufruft zum Streik, die Werkstätten und die Werkstätten sind auch in ihrer Tarifforderungen- kommen die vor. Sie streiken also auch für die Werkstattmitarbeiterarbeitsbedingungen und in dem Augenblick ist es kein Unterstützungsstreik mehr, weil die Leute dann für ihre eigenen Tarifforderungen streiken.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Da kommt ja jetzt etwas auch ins Spiel, dass die Komplexität dieses Falles offenbart. Wir haben hier eben einen Konzern mit wahnsinnig vielen Unternehmen, die darunter liegen. Ich weiß gar nicht, wie viele Verfügungskläger das hier waren,10 elf 12, wenn ich mich nicht täusche. Und-. Zeigt eben auch, dass das Streikrecht natürlich auch Anwendung finden muss auf so komplexe Strukturen. Wir haben ein Wettbewerb zwischen zwei Gewerkschaften, ist das denn zulässig oder vorgesehene? Oder-. Das kann der Bahn eigentlich nicht unbedingt passen, dass mehrere Gewerkschaften in ihrem Unternehmen miteinander streiten und konkurrieren.

PROF. LENA RUDKOWSKI: Ja, das ist gerade das Ziel dieses vier ATVG gewesen, diese Situation auszuschließen, den Wettbewerb unter den Gewerkschaften quasi einzudämmen und möglichst dem Arbeitgeber diese Situation zu ersparen, dass er sich mit mehreren Gewerkschaften konfrontiert sieht, die nacheinander womöglich noch in den Streik gehen. Allerdings von der Verfassung her, ist der Wettbewerb der Gewerkschaften angelegt. Also da steht ausdrücklich geschrieben, dass das jedermanns Grundrecht ist. Jeder hat das Recht einer Gewerkschaft beizutreten, diese zu gründen. Also auch der Wettbewerb der Gewerkschaften.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay, gut, also da haben wir keinen rechtswidrigen Unterstützungsstreik. Jetzt kommen wir mal zur nächsten Voraussetzung. Sie hatten die Verhältnismäßigkeit- und da wird eine Voraussetzung immer so herausgehoben, die sogenannte Kampfparität. Was muss man denn darunter verstehen?

PROF. LENA RUDKOWSKI: Man geht davon aus, dass die Kampfparteien, also die Arbeitgeber und die Arbeitnehmerseite, in etwa gleich stark sein sollen, dass sie in etwa gleich stark sind. Das lässt sich sozusagen als Fortsetzung des Tarifvertrages erklären. Eigentlich gehen wir im Arbeitsrecht davon aus, dass der Arbeitnehmer in der Unterlegenen ist- ist in der schwächeren Position. Er hat nicht genug Verhandlungsmacht, um dem Arbeitgeber allein entgegenzutreten, deswegen findet er sich im Kollektiv zusammen, im Kollektiv der Gewerkschaft, und tritt dann quasi in einer Art Verhandlung auf Augenhöhe ein, im Kollektiv mit diesem Druckmittel des Arbeitskampfes. Da entsteht also Verhandlungsparität und die Fortsetzung dieser Verhandlungsparität ist die Kampfparität. Dass man also im Arbeitskampf theoretisch gesehen hat- jede Seite die Möglichkeit sich durchzusetzen. Die gleich große Möglichkeit. Und jetzt wird diskutiert, ob bei sogenannten Sparten oder Spezialistengewerkschaften diese Kampfparität gestört ist oder ob in Bereichen der Daseinsvorsorge die Kampfparität gestört ist.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Warum?

PROF. LENA RUDKOWSKI: Wenn wir die Spartengewerkschaften betrachten, die vertreten häufig sogenannte Funktionseliten. Das sind also Arbeitnehmer, die mit ihrer Arbeitsniederlegung sehr große Schäden anrichten können, obwohl es nur sehr wenige Arbeitnehmer sind. Nehmen Sie etwa die Piloten, das wäre der klassische Fall, wenn die Piloten nicht zur Arbeit erscheinen, bleiben somit die Flugzeuge am Boden. Das heißt, es hängt unglaublich viel mit daran. Das ist die Funktionselite. Und da hat man sich überlegt, ob das nicht vielleicht Anlass sein muss, generell die Verhältnismäßigkeit abweichend vom Regelfall zu bewerten. Das macht man aber nicht, sondern man schaut einfach auf die Auswirkungen des Streiks. Ist der Streik in seinen Auswirkungen noch verhältnismäßig, greift der in die Rechte des Arbeitgebers, in Rechte Dritter in unverhältnismäßiger Weise ein und dasselbe Spiel eben in der Daseinsvorsorge, also wenn Leistungen bestreikt werden, die lebenswichtig sind für weite Teile der Bevölkerung. Auch das ist ein Fall der Bahn. Die ganzen Pendler, die Schüler, die zur Schule, ins Büro müssen, die sind auf die Leistung der Bahn elementar angewiesen und da kann man sich fragen, ist es nicht vielleicht eine Kampfparität, die Zulasten des Arbeitgebers und der Allgemeinheit verschoben ist, die Lokführer in einer besonders mächtigen Position, weil ohne sie nichts geht. Aber auch da sagt man, das berücksichtigen wir jetzt nicht grundsätzlich. Da machen wir jetzt nicht besondere Streikrechtseinschränkungen, sondern das sind die allgemeinen Streikrechteinschränkungen, die wir hier anwenden und schauen insbesondere auf die Verletzung der Rechte des Arbeitgebers und Rechte Dritter.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Andernfalls wäre ja das Streikrecht inhärent eingeschränkt dadurch, wo man sich gerade befindet, in welchem-, in welcher Organisationsstruktur, in welcher Branche man tätig ist. Das hätte ja zur Folge, dass ein Arbeitgeber in einem Bereich der Daseinsvorsorge die Arbeitsbedingungen gewissermaßen verschlechtern könnte und die Arbeitnehmer und die Gewerkschaften keine Möglichkeit hätten, von ihrem Streikrecht in dem gleichen Umfang Gebrauch zu machen.

PROF. LENA RUDKOWSKI: Genau diese Situation will man eben vermeiden und sagt deswegen, wir konzentrieren uns auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wann ist denn ein Streik verhältnismäßig? Allgemein, wenn man das so allgemein fassen kann.

PROF. LENA RUDKOWSKI: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird da nicht anders angewendet als im Grundsatz im öffentlichen Recht auch, da gibt es diese Teilprüfungspunkte, legitimes Ziel, Abschluss eines Tarifvertrages. Kein Problem. Geeignetheit der Maßnahme, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Maßnahme, also des Streiks zur Durchsetzung des Tarifvertrages und da ist die Rechtsprechung im (?Fluss). Das hat man mal recht streng gesehen, auch Anfang der 90er noch. Jetzt ist man sehr Streikrechtsfreundlich auf der Seite des Bundesarbeitsgerichts und sagt naja, ob ein Streik erforderlich ist, ob der geeignet ist, das ist ein Beurteilungsspielraum der Gewerkschaft. Also da hat die einen Beurteilungsspielraum und kann anhand der Verhandlungssituation überlegen, muss ich jetzt eigentlich streiken? Das ist ein bisschen wie im Fußball, Abseits ist, wenn der Schiedsrichter pfeift. Geeignet und erforderlich ist die Maßnahme, wenn die Gewerkschaft das sagt. So, das als Prüfung, als eigentliche Prüfung für die Rechtsprechung nur noch bleibt die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, die Angemessenheit.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Und wann liegt denn die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne vor? Ich meine, man muss bei einem Streik ja wahrscheinlich auch immer berücksichtigen, dass das kolossale Auswirkungen auf Dritte haben kann. Also gerade im vorliegenden Fall, aber das (?fällt) mir allgemein wann? Wann ist denn die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne vor oder nicht mehr vor?

PROF. LENA RUDKOWSKI: Da sind Sie letztlich wieder bei der Grundrechtesdogmatik Artikel neun drei Grundgesetz. Das Streikrecht als schrankenlos Grundrecht muss in Abwägung gestellt werden mit kollidierenden Grundrechten des Arbeitgebers oder eben vor allen Dingen auch in Bereichen, in dem die betroffen sind, in Bereichen der Daseinsvorsorge, mit den Rechten Dritter und die dürfen nicht übermäßig beeinträchtigt werden. Und da müssen Sie also schauen, sind die Schäden für die Allgemeinheit, für die Dritten, so groß, dass der Streik rechtswidrig sein muss? Häufig wird in diesen Fällen die Gewerkschaft aber auch schon was als Alternative anbieten. Also wenn Sie schauen Streik im Wasserwerk. Da bietet die Gewerkschaft von sich aus Notdienst an, damit sie als Kunde gar nicht merken, dass da gestreikt wird. Da wird durchaus gestreikt, wir merken es nur nie, da es eben einen Notdienst gibt.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Ist in der Streik nicht bereits dadurch unverhältnismäßig, dass hier eine nicht messbare Vielzahl von Bahnfahren und Bahnfahren durch den Streik daran gehindert werden, durch das ganze Land zu fahren? Ich meine, die Auswirkungen des Streiks sind ja in persönlicher, zahlenmäßiger und wirtschaftlicher Hinsicht enorm.

PROF. LENA RUDKOWSKI: Ja, das könnte man so sehen. Man könnte eben insbesondere auf die Schüler abstellen. Man könnte auf die Pendler abstellen und sagen, ja, diese Leute müssen auch irgendwie zur Arbeit kommen, in die Schule kommen und das ist-. Da werden für wenige Leute, die streiken, die das Streikrecht ausüben, wird quasi die gesamte Republik lahmgelegt. Da gibt es in der Literatur auch Leute, die sehen das so und wollen dann eben ein Streikverbot konstruieren aber die Rechtsprechung geht da nicht mit. Die sagt, es sind jetzt keine Wochenlang Dauerstreik, sondern es sind immer so tagesweise Streiks und häufig findet dann noch ein Notdienst statt, dass man dann irgendwie einen Zug noch fahren lässt, morgens für die Schüler und das reicht der Rechtsprechung. Das könnte man auch anders sehen, aber die Rechtsprechung ist sehr streikrechtsfreundlich. Und erst wenn also die Rechte Dritter unverhältnismäßig beeinträchtigt sind, erst dann kommen wir zur Rechtswidrigkeit des Streiks. Passiert so gut wie nie. Also der Arbeitgeber, der wird das auch gewusst haben. Jetzt in diesem Fall LAG Hessen. Seine Erfolgsaussichten waren verschwindend gering. Wie gesagt, wenn Sie einen Streik unterbinden wollen, dann versuchen Sie herauszufinden, ob das ein Verstoß gegen die Friedenspflicht ist. Aber über die Verhältnismäßigkeit kommen sie in den meisten Fällen nicht zum Ziel.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Auch da ist es ja in gewisser Form naheliegend, wie wir es gerade eben auch schon an einem anderen Tatbestandsmerkmale hatten, dass wenn man das hier so streng sehen würde, die Streikrecht von Unternehmen der Daseinsvorsorge oder auch Einrichtungen, bei denen Streiks besonders große Auswirkung haben, dass sie stark eingeschränkt würden. Also so stark eingeschränkt würden, dass man aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht mehr unbedingt von einem funktionierenden Streikrecht sprechen könnte.

PROF. LENA RUDKOWSKI: Also in anderen Ländern gibt es das aber, dass bestimmte Berufsgruppen überhaupt nicht streiken dürfen. Da sagt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das ist aber in Ordnung, solange Sie irgendeine Möglichkeit haben, ihre kollektiven Arbeitskonflikte wirksam beizulegen. Schlichtung, Mediation, gerichtliche Kontrolle, irgendetwas. Dann könnten wir das theoretisch gesehen hier in Deutschland auch machen. Machen wir auch bei einer Berufsgruppe die Beamten, die sind dann auch ausgeschlossen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay. Also in diesem Fall kommt das dann dazu, dass das Landesarbeitsgericht Hessen sagt, der Streik ist rechtmäßig. Der Streik durfte also auch durchgeführt werden. Es führte zum Abschluss eines Tarifvertrags und das- der Zyklus beginnt von Neuem. Sie hatten gerade schon einen Blick in andere Länder gewagt. Zum Abschluss unseres Gesprächs würde ich gerne mit Ihnen den Blick noch mal weiten und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diesen Fall nochmal bewerten könnten. Wie- wie ordnen Sie diesen Fall ein? Was sagt er in Ihren Augen aus über die gegenwärtige rechtliche Verfasstheit des Streikrechts in Deutschland?

PROF. LENA RUDKOWSKI: Wie gesagt, die Rechtslage im Augenblick ist sehr streikrechtsfreundlich. Wenn wir das mit anderen Ländern in Europa auch vergleichen, gerade für Bereiche, die lebenswichtige Leistungen erbringen, ist Deutschland ziemlich großzügig. Und das könnte man auch anders machen, ist aber nicht geboten. Also die Rechtslage, so wie sie ist, ist aus völkerrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Und da ist also die Zukunft offen für weitere Entwicklungen durch die Rechtsprechung, durch die Fortentwicklung des BVG vor allen Dingen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wir beobachten ja in Deutschland auch nicht Zustände, in denen dauerhaft gestreikt wird. Mein Eindruck wäre, aus Perspektive des neugierigen Betrachters, dass die Gewerkschaften überwiegend die Arbeitskampfmaßnahmen, auch wenn sie punktuell erhebliche Auswirkungen haben, relativ zurückhaltend oder jedenfalls relativ gezielt einsetzen, wenn sie wirklich den Eindruck haben, dass die Kooperation mit den Arbeitgebern nicht mehr funktionieren.

PROF. LENA RUDKOWSKI: Ja, wenn man das im internationalen Vergleich sehen, dann ist Deutschland ein vergleichsweise friedliches Land. Und dann sind die Gewerkschaften da auch sehr verantwortungsvoll und gehen zurückhaltend mit der Ausübung des Streikrechts um. Da gibt es immer so ein paar sehr öffentlichkeitswirksame Fälle. Ja, Stichwort Bahnstreik. Da guckt dann die gesamte Republik darauf und das erweckt dann vielleicht auch den Eindruck, in Deutschland würde eigentlich ständig nur gestreikt. Das belegen die Zahlen aber nicht, sondern es gibt viele Branchen, da läuft das weitgehend geräuschlos und von der Öffentlichkeit unbemerkt ab.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Danke, liebe Frau Professorin Rudkowski, haben Sie vielen Dank für Ihre Zeit und das spannende Gespräch.

PROF. LENA RUDKOWSKI: Vielen Dank.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wir hoffen, die Folge hat euch gefallen. Vielen Dank fürs Zuhören. Wenn euch der Podcast Freude bereitet oder ihr Verbesserungsvorschläge habt, hinterlasst uns bitte eine Bewertung auf der Podcast Plattform eures Vertrauens. Wir hören uns in der nächsten Folge Spruchreif in zwei Wochen.

Erwähnte Gerichtsentscheidungen

Das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 03.09.2021 findet ihr hier.

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