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Verfassungsstreit zwischen Polen und der EU – mit Prof. Alexander Thiele

Jurafuchs Podcast #006 | Darf die EU Vorgaben für die Justiz eines Mitgliedstaates machen? | EuGH, Urteil vom 15.07.2021 - C‑791/19 - & Verfassungsgericht Polen, Urteil vom 07.10.2021 - K 3/21

Zusammenfassung

Polen und die Europäische Union streiten seit mehreren Jahren über die Rechtsstaatlichkeit der polnischen Justiz. Kern der Auseinandersetzung ist eine Disziplinarkammer, die indirekt durch die polnische Regierung kontrolliert wird und  die Disziplinierung unliebsamer Richter:innen ermöglicht. Die Europäische Kommission sieht deshalb die Unabhängigkeit der Gerichte in Polen in Gefahr und hat Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen angestrengt. 

Der Europäische Gerichtshof hat mit Urteil vom 15.07.2021 (Rs. C‑791/19) für Recht erkannt, dass die Zusammensetzung, die Zuständigkeit und das Verfahren der Disziplinarkammer eine hinreichend unabhängige Justiz in Polen nicht gewährleisten. Es bestehe die Gefahr, dass polnische Richter:innen an einer unabhängigen Anwendung des Unionsrechts in Polen gehindert werden. Dadurch verletze die Republik Polen ihre Verpflichtungen aus Artikel 19 Absatz 1 Unterabsatz 2 EUV und Artikel 267 Absatz 2 und 3 AEUV.

Am 07.10.2021 hat das Polnische Verfassungsgericht (Trybunał Konstytucyjny) in einer beispiellosen Entscheidung ausdrücklich den Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen polnischen Verfassungsrecht in Abrede gestellt. 

Professor Alexander ThieleInhaber der Professur für Öffentliches Recht, insbesondere Staats- und Europarecht an der BSP Business und Law School in Berlin, erläutert die Hintergründe, Streitpunkte und Folgen dieser Entscheidungen. Professor Thiele erklärt dabei, auf welcher Grundlage die Europäische Union ihren Mitgliedstaaten Vorgaben in Bezug auf die nationale Justiz machen darf und warum das Recht der Europäischen Union Anwendungsvorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten genießt. Dabei legt er auch offen, in welchem Verhältnis das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts zum PSPP-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 05.05.2020 steht, und skizziert, welche Wege aus Verfassungskrise zwischen Polen und der EU denkbar sind. 

Interview (Transkript)

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Willkommen bei Spruchreif. Dem Rechtsprechungspodcast von Jurafuchs. In Kooperation mit dem Nomos Verlag. Mein Name ist (?Wendite Neubert) und zusammen mit meinen Gästen gehe ich dem Kontext und den Hintergründen aktueller Gerichtsentscheidungen auf die Spur. 

PROF. ALEXANDER THIELE: Die Unabhängigkeit als zentrale Funktionsbedingung der Gerichtspartei, da kann und da muss die europäische Union ein Auge draufhaben. Es gibt gewisse Grundlagen, auf die wir uns geeignet haben, die sind unverhandelbar. Und wenn sie aber dann doch verhandelbar werden oder wenn sie in Zweifel gezogen werden, ist das Recht überfordert sie durchzusetzen. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Mein Gast ist Doktor Professor Thiele. Professor Thiele ist Inhaber der Professur für öffentliches Recht, insbesondere Staats- und Europarecht, an der BSB, Business and Law School in Berlin. Seien Sie herzlich Willkommen. 

PROF. ALEXANDER THIELE: Vielen Dank für die Einladung. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Schön, dass Sie da sind. Wir sprechen üben den anhaltenden europäischen Verfassungskonflikt zwischen Polen und der europäischen Union. Die Republik Polen hat im Rahmen einer Justizreform umfangreiche Änderungen an ihrem Justizsystem vorgenommen. Und dies hat zu einem erheblichen Konflikt zwischen beiden Seiten geführt. Lieber Professor Thiele könnten Sie zum einen im Rahmen dieses Gesprächs erläutern, worüber genau die EU und Polen eigentlich streiten. 

PROF. ALEXANDER THIELE: Also das ist ein Streit, der jetzt schon mehrere Jahre schwelt und den Ausgangspunkt im Grunde schon im Jahr 2015 hat. Und zu diesem Zeitpunkt geht es vor allen Dingen um die Neubesetzung einiger Verfassungsrichterstellen. Wo die Peace-Regierung, die dann 2015 oder 2016 an die Macht kommt, mit der Ernennung durch das vorherige Parlament nicht einverstanden ist. Und dann der Staatspräsident sich weigert die Vereinigung durchzuführen, sodass ein bisschen unklar ist, wie denn eigentlich der Status der Richterinnen und Richter ist. Daraufhin kommt es dann dazu, dass die Peace-Partei eigene Richter ernennt. Also es wird im Grunde so eine sehr undurchsichtige (?Gemenge) Lage mit einem überbesetzen Verfassungsgericht, was auch nie so richtig wirklich gelöst wird. Und das breitet sich dann aus auf die einfache Gerichtsbarkeit in dem dann die Peace-Regierung eben auch versucht die eigene Gerichtsbarkeit so ein bisschen unter Kontrolle zu bekommen. Und der zentrale Stein des Anstoßens ist da eine Disziplinarkammer, die eingerichtet wird. Die ist auch mit Richtern besetzt, die aber vom Staatspräsidenten auf Vorschlag einer etwas wiederum dubiös besetzten Justizratskammer ernannt werden. Und diese Disziplinarkammer hat weitreichende Befugnis eben tatsächlich bei der Disziplinierung von Richterinnen und Richtern aus der einfachen Gerichtsbarkeit. Sie kann sie absetzten, unter bestimmten Voraussetzungen, kann sie disziplinarisch ahnten, wenn ein einfacher Richter beispielsweise in Frage stellt, dass das Verfassungsgericht ordnungsgemäß besetzt ist. Und es ergibt dann natürlich auch Sinn vor dem Hintergrund des Verfassungsrichtsstreits. Denn das ist dann eben vorgekommen. Das ist ein expliziter Grund, um Richter und Richterinnen also jetzt durch die Disziplinarkammer zu disziplinieren und dann möglichweise auch zu Sanktionieren. Und der eigentliche Streit ist jetzt also, ob so eine Disziplinarkammer eigentlich mit der Idee der Unabhängigkeit der Justiz vereinbar ist. Und da sagt der EUGH und da sagt die Kommission im Grunde, Richter können auch diszipliniert werden, die stehen nicht außerhalb der Rechtsordnung. Die Möglichkeit ist da. Aber die Kammer, die das macht, muss natürlich ihrerseits unabhängig sein, weil ansonsten wird die Unabhängigkeit irgendwie ins absurdem geführt. Und genau da, ist der Streit angesiedelt. Diese Disziplinarkammer ist aus Sicht der Union nicht hinreichend unabhängig. Und verstößt deswegen gegen das Rechtsstaatsprinzip auf europäischer Ebene, weil sie als nicht unabhängig Kammer, als politisch beeinflussbare Kammer unabhängige Richterinnen und Richter sanktionieren und dann natürlich auf die Rechtsprechung einwirkt, weil Richter eben Angst haben müssen, dass sie ihren Job verlieren. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay. …#00:04:28# die EU einen Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen auf den Weg gebracht und im Juni diesen Jahres hatte dann der EUGH, so geurteilt wie sie es gerade beschrieben hatten. Also hat eine Verletzung von Unionsrecht durch diese Justizreformen angenommen. Im Detail gehen wir da gleich noch mal ein, aber jetzt wollen wir erstmal den Verfahrensstand abschließend betrachten. Und dann hat jetzt am siebten Oktober 2021 die polnische Justiz geantwortet auf diese Reaktion aus oder diese Haltung von Seiten der europäischen Union. Und das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts hat Schockwellen in der EU ausgelöst. Wie hat denn das Gericht entschieden und wie kam es zu der Entscheidung? 

PROF. ALEXANDER THIELE: Ja, das ist ganz interessant. Also, das Verfassungstribunal, was hier entschieden hat, hat eben keinen konkreten Fall zum Anlass gehabt, um jetzt mal den Rundumschlag zu tätigen, sondern wurde tatsächlich, in einem besonderen Verfahren, von der polnischen Regierung gebeten Stellung zu nehmen. Das ist vorgesehen, ein Gutachtenverfahren, wenn man so will. Das gibt es in manchen Rechtsordnungen. Das hatten wir früher in Deutschland auch. Da gab es auch ein Gutachtenverfahren beim Bundesverfassungsgericht. Also so eine Art abstrakte Analyse des Rechtszustandes. Man hat also darum geben mal festzustellen, dass auch die europäische Union eigentlich überhaupt keine Kompetenzen hat im Bereich der nationalen Ausgestaltung der Gerichtsordnung zu intervenieren. Und dass das Europarecht doch immerhin sich weiterhin an der Verfassung messen muss. Also das dieser Vorrang des Europarechts eigentlich auch in diesem Bereich nicht gelten kann. Und am siebten Oktober kam dann das Urteil und das hat eben massive Wellen geschlagen. Deswegen weil es im Grunde alles das, was die Regierung hören wollte, mehr oder weniger, eins zu eins bestätigt hatte und sogar im Grunde noch weiter gegangen ist. Und eigentlich, wenn man das Urteil liest festgestellt, dass der Vorrang des Europarechts eigentlich keine wirkliche Geltung mehr in Polen haben kann. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Das ist eine wirklich beeindruckende und beunruhigende Entscheidung. Die hat auch innerhalb der europäischen Union, sowohl von Seiten der EU-Kommission als auch von Seiten der meisten Mitgliedsstaaten zu schwersten Beunruhigungen geführt. Es gab dann auch einen sehr aufgeladenen Schlagabtausch im europäischen Parlament und jetzt auch beim letzten EU-Gipfel ging es zentral um diese Frage. Die haben eine wirklich verzwickte Gemengelage, eine veritable Verfassungskrise. Und jetzt wollen wir uns mal in die maßgeblichen Rechtsfragen, die da hinter Stehen vertiefen, die diesem Konflikt zugrundliegen. Sie hatten schon das Thema Anwendungsvorrang des Unionsrechts angesprochen. Und gern würde ich mal am Anfang der Frage nachgehen, die glaube ich auch viele interessiert. Auf welcher rechtlichen Grundlage ist die Europäische Union eigentlich befugt einem Mitgliedsstaat zu sagen, dass eine Justizreform, die dieser ein Mitgliedsstaat durchführt, nicht mit dem Unionsrecht konform geht? 

PROF. ALEXANDER THIELE: In der Tat. Also die polnische Regierung beruft sich vor dem Hintergrund, darauf dass es eben keine explizite Regelung in den Unionsverträgen gibt, die konkrete Vorgaben für die nationale Gerichtsbarkeiten macht. Das ist natürlich richtig. Das ist so. Das bedeutet aber noch nicht automatisch, dass die europäische Union dort überhaupt nicht mithineinreden kann. Der europäische Gerichtshof sieht es eben dementsprechend auch anders und sagt: „Ja, das stimmt. Wir haben keine explizite Kompetenz, aber wir sind eben eine Rechtsgemeinschaft und wir sind auch eine Gerichtsgemeinschaft. Wir sind ein europäischer Verfassungsverbund, so wie es auch dann ein Verfassungsgerichtsverbund.“ Wie es Herr Voßkuhle genannt hat. Also die nationalen Gerichte und die europäischen Gerichte, wirken bei der Durchsetzung des Europarechts zusammen. Die nationalen Gerichte werden immer dann, wenn sie Europarecht anwenden, und das tun sie ganz oft, ganz regelmäßig. Wenn europäische Verordnung, europäische Richtlinie umgesetzt worden sind, nationales Recht, was auf Europarecht beruht, dann werden sie, wie wir Juristen und Juristinnen sagen, zu funktionellen Gerichten. Sie transformieren sich, verlangen ihre nationale Sphäre und werden dann in dem Augenblick quasi zu einem Anhängsel des europäischen Gerichtshofs. Ein Teil des europäischen Gerichtshofs, indem vorgesehen ist, in der Europäischen Union, dass eben EUGH und nationale Gerichte gemeinsam für die Durchsetzung des Europarechts sorgen. Und genau das bedeutet dann für den europäischen Gerichtshof, dass dieses System nur funktionieren kann, wenn auch die nationalen Gerichte gewisse Grundvoraussetzungen erfüllen. Und zu dieser Grundvoraussetzung gehört für den europäischen Gerichtshof eben die Unabhängigkeit. Anders gewendet, der Nationalstaat, der Mitgliedsstaat kann seine Gerichtsbarkeit organisieren, wie er will, solange nur nationales Recht ausgelegt wird. Aber wenn das Europarecht ins Spiel kommt, verlangt die Effektivität des Europarechts, dass die nationalen Gerichte bestimmte Anforderungen erfüllen und die Norm auf die sich der europäische Gerichtshof dann beruft, ist eben Artikel 19 des EU-Vertrages. Wo eben drin steht, ich zitieren mal Absatz eins: „Der Gerichtshof der Europäischen Union umfasst den Gerichtshof, das Gericht und die Fachgerichte. Er sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung, Anwendung der Verträge.“ Das ist also das zentrale Organ in Luxemburg. Und der geht dann aber weiter und sagt: „Die Mitgliedsstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in dem vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.“ Und ein Rechtsschutz durch nicht unabhängige Gerichte, durch nicht unabhängige Strukturen ist eben nicht effektiv, nicht wirksam im Sinne dieser Norm. Und da ist dann das Einfallstor für den europäischen Gerichtshof und das wird gespiegelt noch mal in Artikel 47 der europäischen Grundrechte, Charta. Und dort ist auch noch mal das Recht auf einen wirksamen Rechtbehelf und ein unparteiisches Gericht explizit vorgegeben. Und damit würde ich an der Stelle, Stärker auf der Seite der europäischen Union sein und sagen: „Ja, wie die Gerichte heißen, wie viele Senate es gibt, wie die zusammengesetzt sind, welche Zuständigkeiten sie im Einzelnen haben, dass alles sind mitgliedsstaatliche Sachen. Aber die Unabhängigkeit als zentrale Funktionsbedingung der Gerichtsbarkeit, da kann und da muss die Europäische Union ein Auge draufhaben.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Das ist auch ein Ergebnis einer ganz langen Entwicklung seit Beginn der Europäischen Union beziehungsweise der Gemeinschaften, die eine Rechtssprechungsgeschichte, die durch den EUGH geprägt ist, mitgemacht hat. Und in der die Verfassungsüberlieferung, die Verfassungstradition der Mitgliedsstaaten (?amalgamiert) wurden zu dem europäischen Verfassungsrecht. Was dann jetzt eben später immer wieder kodifiziert wurde und das jetzt den Kern des Verfassungsgerichts ausmacht. Und da gehört eben das europäische Rechtsstaatsprinzip dazu, was genau auch diese Aspekte, die Sie gerade beschrieben haben, verinnerlicht. Und es ist umso interessanter als ein Staat, der der Europäischen Union beitreten möchte, diese Voraussetzungen erfüllen muss. 

PROF. ALEXANDER THIELE: Es ist aber eben auch genau die offene Flanke der Europäischen Union, wie wir es eben sehen. Da ist im Grunde nur eine Eingangskontrolle erfolgt. Und diese Eingangskontrolle, wir haben es auch bei der europäischen Währungsunion gesehen, beispielsweise, eben nicht gewährleisten kann und nicht sicherstellen kann, aus sich heraus, dass diese Wertegemeinschaft, diese Wertefundierung auch während der Mitgliedschaft beibehalten wird. Da ist im Grunde die zentrale Baustelle, die wir an vielen Stellen bei der europäischen Union sehen. Und das war eben einfach Schlicht nicht vorstellbar, dass diese fundamentalen Werte, auf die man sich geeinigt hat, tatsächlich irgendwann, von irgendeinem Mitgliedsstaat in Frage gestellt werden. Und nun ist das eben eingetreten und wir stehen aus rechtlicher Sicht so ein bisschen hilflos da. Und das ist eigentlich nicht vorgesehen. Also das ist im Grunde der Supergau. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Da greif ich auch noch mal ein, was für Lösungsansätze es da gibt? Auch das Thema Rechtschafts Mechanismus. Sie haben wiederholt schon den Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor dem Recht der Mitgliedsstaaten angesprochen. Dieser Anwendungsvorrang ist einer der zentralen Bausteine. Es hilft sich da vielleicht zu Erinnerung zu rufen, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrecht ursprünglich eine gerade revolutionäre Idee war. Als der EUGH mit seiner berühmten Entscheidung Costa/Enel diese Vorstellung vom Anwendungsvorrang aus dem Hut gezaubert hat. Können Sie uns da mal mitnehmen zu den Anfängen des Anwendungsvorrangs? 

PROF. ALEXANDER THIELE: Ja, also die europäische Union, damals die europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, europäische Atomgemeinschaft sind als Völkerrechtliche Verträge erstmal eigentlich nichts Besonderes gewesen. Aber gerade bei der europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl stand der Begriff supranational anfangs sogar noch in den Verträgen drin. Es war irgendwie klar, dass eine besondere Dichte damit irgendwie angestrebt wird. So eine rechtliche Dichte, wenn man so will. Aber es war allen Beteiligten noch nicht so richtig 100 Prozent klar, wie das jetzt eigentlich umgesetzt wird und was das jetzt konkret bedeutet. Man wollte in den Binnenmarkt, damals dann schon im …#00:14:08# Wirtschaftsgemeinschaft schaffen. Man wollte eng miteinander kooperieren, enger als das in anderen internationalen Kooperationen der Fall ist. Man hat gerade bei der europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Hoheitsrechte übertragen, gleich dort sehr stark und sehr intensiv. Deswegen da auch Supranationalität gleich irgendwie mit in die Verträge geschrieben. Und all das hat dazu geführt, dass sich der europäische Gerichtshof in dieser berühmten Entscheidung Costa/Enel dazu äußern musste, wie frei sind jetzt eigentlich die Mitgliedsstaaten noch in ihrem Vorgehen? Wie frei können sie eigentlich jetzt noch auch Recht erlassen, was gegen die Verträge möglicherweise verstößt? Greifen dann die normalen völkerrechtlichen Sanktionsmechanismen. Dann ist man eben Völkerrechtswidrig agierend, aber mehr im Grunde passiert nicht im Völkerrecht, wenn man ehrlich ist. Ich übertreibe jetzt ein bisschen. Helmut Aust mag ein bisschen Nachsicht mit mir haben. Aber im Prinzip jedenfalls, war das die Ausgangsfrage, die der EUGH beantworten musste. Und der hat eben aus der Idee der Rechtgemeinschaft, aus der Idee der besonders engen Kooperation, diese Idee des Anwendungsvorrangs dann herausdestilliert und gesagt: „Nein, wenn der Zweck dieser Gemeinschaft eigentlich erfüllt sein soll, dann kann letztlich kein nationales Recht den europäischen Verträgen vorgehen, denn dann können wir den Binnenmarkt im Grunde auch gleich beerdigen. Denn dann pickt sich jeder die Rosinen raus, genauso wie wir es jetzt vielleicht auch sehen. Und dann funktioniert das Ganze nicht. Das Ganze war natürlich überraschend für die Mitgliedsstaaten, aber es war natürlich in der Tragweite nicht so, dass es zu einem Riesenaufstand gekommen wäre. Man muss sich klar machen, dass Europarecht was in den Anfängen, es gab praktisch noch kein Sekundärrecht, wenn wir ehrlich sind. Also das das Europarecht diese tägliche Präsenz hat, das war damals nicht. Es betraf bestimmte Bereiche, aber wurde dann etwas zähneknirschend von den Mitgliedsstaaten, damals nur sechs Stück, akzeptiert und hingenommen. Und das besondere ist jetzt, dass damit der Pflock eingeschlagen war und dass sich dann das Europarecht zunehmend erweitert hat, nicht nur territorial, sondern auch in der Menge der Regelungen, die es gibt. Besonders bedeutend natürlich dann das Binnenmarktprogramm, nach der Überwindung der Toten Zeit, Mitte der 80er Jahre. Wir haben so eine tote Zeit, wo sich im Grunde nicht viel tut europarechtlich, nicht an Frankreich und auch nicht an all den anderen Staaten. Aber so Mitte der 80er Jahre kommen das Binnenmarktprogramm, hunderte von Sekundärrechtsakten werden vorgeschlagen. Und plötzlich merken alle, dass mit dem Anwendungsvorrang gilt, jetzt hier auch. Also das ist jetzt hier überall. Und da, zu dem Zeitpunkt war es eigentlich schon so etabliert, dass es eigentlich nicht mehr in Frage gestellt wurde und man würde, sagen könne, auch die Mitgliedsstaaten haben es eigentlich schon mittlerweile akzeptiert. Es gibt ein Protokoll zum Lissabonner-Vertrag, wo im grundgenommen gesagt wird, so wie es bisher mit dem Vorrang ist, nehmen wir das auch hin. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Also wie Sie es beschrieben haben, ist der Anwendungsvorrang heute Teil dieser Verfassungsrechtlichen-DNA des Unionrechts? Ist nicht mehr wegzudenken. Man könnte sogar sagen, einer der Grundpfeiler der Unionsordnung ohne den die Unionsrechtsordnung nicht funktioniert. 

PROF. ALEXANDER THIELE: Sie wäre dann eben keine Unionsrechtordnung, wie wir sie kennen mehr. Sie wäre dann degradiert zum völkerrechtlichen, Staatenbund. Und eine klassische völkerrechtliche Konstruktion, aber das Supranationale, was sie prägt, ist eben dieser Anwendungsvorrang, ist dieser Vorrang des Europarechts, ist ihre Eigenschaft als supranationale Organisation. Und die hängt am Vorrang. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Nun gibt es auch gewissen Durchbrechungen des Anwendungsvorrangs?

PROF. ALEXANDER THIELE: Richtig. Also, der europäische Gerichtshof ist natürlich völliger anderer Ansicht und sagt, der Vorrang gilt absolut. Die nationalen Verfassungsgerichte haben das eigentlich seit je her ein bisschen anders gesehen. Nicht nur das Verfassungsgericht, auch viele andere. Und in meiner Vorlesung sage ich immer: „Beide haben Recht.“ Es ist eine Perspektivfrage. Natürlich hat der EUGH recht, wenn man aus europäischer Perspektive guckt. Denn wenn er den Vorrang einschränken ließe, dann könnte sich eben jeder die Rosinen rauspicken. Das Bundesverfassungsgericht hat aus deutscher Sicht ebenso recht. Denn die europäische Union wird errichtet durch die Mitgliedsstaaten, dann bestimmen die Mitgliedsstaaten auch die Regeln, wie die um Club gelten. So einfach ist das. Und diese Ambivalenz, die gilt es eben auszuhalten. Die müssen wir nicht auflösen. Das ist ein Konflikt, den wir rechtlich nicht lösen können. Wie spielen miteinander so ein bisschen, aber wichtig ist, dass eben keine Seite dann die endgültige Entscheidung sucht, sondern dass beide Seiten miteinander leben, miteinander kommunizieren, sich miteinander Unterhalten, aufeinander eingehen. Und beide latent wissen, was der andere denkt, aber es nie explizit machen. (I: Wie der Gerichtsverbund.) Genau, dieser Gerichtsverbund, der eben diese Frage so ein bisschen in der Schwebe lässt. Wir neigen als Juristinnen und Juristen immer gern dazu, auch gesellschaftlich, wir wolle klare Aussagen. Ist jetzt Vorrang oder nicht? Gibt es jetzt einen Identitätsvorbehalt oder nicht? Und mein Petitum wäre zu sagen, die Kraft schöpft diese supranationale Organisation darauf, dass wir es offenlassen. Ein bisschen Schrödingers Katze. Sie lebt und sie ist Tod zugleich. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Und das Bundesverfassungsgericht hatte bislang solche Durchbrechungen in der Praxis nicht angenommen bis zu seinem Urteil, zum Public Sector Purchase Programm, PSPP, im Mai 2020. Was ist damals passiert? 

PROF. ALEXANDER THIELE: Was jetzt, um im Bild zu bleiben, dass Bundesverfassungsgericht im Grunde beim PSPP-Urteil gemacht hat, sie hat die Katze getötet. Gesagt: „Nein, die ist Tod.“ Punkt. Aus unserer Sicht ist der Vorrang nicht anzuerkennen. Ich will Ihnen die technischen Details nicht hineingehen. Das PSPP-Programm ist ein Ankaufprogramm von Anleihen der europäischen Zentralbank gewesen. Und das Bundesverfassungsgericht hielt dieses in der Sache am Ende für unverhältnismäßig und da ist es nicht mehr von den Kompetenzen gedeckt. Und dass das Bundesverfassungsgericht bestimmte Vorbehalten hat gegenüber dem Vorrang hat, ist aus deutscher Perspektive nachvollziehbar. Aber man muss eben sehr, sicher sein, wenn man so einen wirklich ziehen will. Und wenn man den dann in die Praxis tatsächlich dann in sein Urteil schreibt. Und genau so einen Fall hatten wir beim PSPP-Urteil auf gar keinen Fall. Das also Schaden angerichtet wurde, ohne Not. Denn der Schaden, der angerichtet wurde, war natürlich, dass was jetzt passiert ist. Das andere Verfassungsgerichte dann natürlich jetzt sagen: „Guck mal, die machen das doch auch.“ Und das Verfassungsgericht in Polen hat natürlich sich auch explizit auf Deutschland bezogen. Auch die polnische Regierung hat sich auf Deutschland bezogen und stilisiert sich als Opfer. Im Sinne: „Die Deutschen dürfen es und wir nicht, oder wie?“ 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Da ist es auch ganz wichtig, weil dieses Urteil aus Karlsruhe so oft angeführt wird, ohne dass wir jetzt über dieses Urteil im Detail sprechen, aber wichtig ist zu schauen, was unterscheidet jetzt, das was Karlsruhe gemacht hat in der PSPP-Entscheidung und was das polnische Verfassungsgericht jetzt macht. 

PROF. ALEXANDER THIELE: Also das Bundesverfassungsgericht betont zunächst einmal immer wieder, als Ausdruck seiner Europarechtsfreundlichkeit, dass es den Anwendungsvorrang prinzipiell anerkennt. Und sagt: „Der gilt.“ Der gilt auch in der Praxis. Also der spielt auch in der Praxis auch eine große Rolle. Also auch vor einfachen Recht und auch in zentralen Bestimmungen des Verfassungsrechts ist anerkannt und wird vom Verfassungsgericht auch überhaupt nicht in Frage gestellt in Deutschland. So jetzt hat es eine sehr lange, in die 70er Jahre zurückgehende, Dogmatik entwickelt, die gewisse punktuelle Ausnahmen postuliert. Also Ultra-Vires, die haben wir gerade schon mal angesprochen, wenn man außerhalb der Kompetenzen handelt. Wenn es ein massiven Grundrechtsverstoß gibt, also der Grundrechtsstandard massiv absinkt auf europäischer Ebene. Da kommt es eigentlich auch her. Und das letzte ist dann eben dieser Identitätsvorbehalt. Wobei das Verhältnis zueinander, dieser drei Vorbehalte nicht ganz klar ist, dass ist jetzt nicht so entscheidend. Der Unterschied zum polnischen Urteil ist jetzt, dass eben das polnische Gericht im Grunde nicht auf eine Verfassungsdogmatik an der Stelle aufsetzt, sondern sehr pauschal den Vorrang des Europarechts ablehnt und sagt, dass das europäische Recht nachrangig sein muss, immer dann, und jetzt kommt so eine selbstsame Formulierung, wenn andernfalls die polnische Republik als Demokratie nicht mehr funktionsfähig wäre. So, als souveräne Republik. Wenn man das ernst nimmt, dann kann theoretisch natürlich jede demokratische Entscheidung, die im Parlament, im polnischen, getroffen wird, ob einfaches Recht oder Verfassungsrecht, letztlich eine sein, die am europäischen Vorrang nicht mehr Teil hat, weil man sagt: „Wir haben es aber demokratisch entschieden. Wir haben doch demokratisch entschieden und wenn du jetzt uns sagst nein, dann verstößt du gegen diesen Leitsatz, dass wir dann als nationale Demokratie nicht mehr funktionsfähig sind.“ So jedenfalls steht es im ersten Teil des Urteils und daraus kann man natürlich unglaublich viel machen. Man kann das, wenn man ganz wohlwollend ist, sagen: „Nein, die meinten es eigentlich nur, bezogen auf den Rechtsschutz und so.“ Also auf diese Gerichtsbarkeitsregelungen. Aber das kommt erst im zweiten Teil. Also da gehen sie noch mal explizit darauf ein, dass eben dann die europäische Union eben keine Kompetenzen hat im Bereich der Rechtsprechung und so weiter. Aber dieser erste Teil ist so weit gefasst, dass man daraus im Grunde, wenn man das möchte, und das möchte die Regierung natürlich auch, durchaus eine Absage an den Vorrang insgesamt entnehmen kann, oder jedenfalls, die Möglichkeit hat, alles was man nicht mag mit dieser Formel abzulehnen. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Jetzt haben wir einen veritablen Verfassungskonflikt, weil eben in diesem Fall ein Mitgliedsstaat aus dem anerkannten Fahrwasser der Union ausbricht und sich, ob das jetzt günstig ist oder nicht, dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, der PSPP-Sache bedient. Also in die Büchse der Pandora vermeintlich. Das kann man sich auch anders sehen, die Dogmatik, haben Sie ja beschrieben, war immer da. Viele Kommentatoren und Beobachteter in Deutschland warteten schon seit 20 Jahren darauf, dass das Bundesverfassungsgericht diese Karte mal zieht. 

PROF. ALEXANDER THIELE: Richtig, aber wir haben jetzt nicht die Situation, wo wir eben genau das haben, was ich gerade angesprochen habe, was wir eben rechtlich nicht lösen können. Wir haben jetzt die Situation, dass jetzt alle Seiten anfangen Ansprüche zu stellen, in der Öffentlichkeit. Denn natürlich muss die europäische Kommission, muss die europäische Union auf so eine formale Aussage eines Urteils reagieren. Sie hat deswegen, auch darüber kann man sich sehr streiten, relativ schnell auch ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet, weil sie dem Absolutheitsanspruch der deutschen Verfassung, jetzt offiziell den Absolutheitsanspruch der europäischen Regelungen entgegenstellen muss. Und jetzt fängt Polen an den nächsten Absolutheitsanspruch zu machen. Und wir haben jetzt genau das Dilemma, dass jetzt alle anfangen den Streit aufzulösen, der eigentlich dadurch seine Kraft entfaltet, dass er nicht aufgelöst wird und offengelassen wird und in der Schwebe gehalten wird. Denn in der Praxis funktioniert der Vorrang wunderbar. Die deutschen Gerichte und auch europäischen Gerichte und auch in Polen, in anderen Staaten, Frankreich, Portugal, wo auch immer, die wenden entgegenstehendes nationales Recht, dass gegen Europarecht verstößt, nicht an. Das machen die einfach. Tagtäglich passiert das. Das heißt, der ganze Konflikt, der teilweise auch sehr aufgebauscht ist, spielt in der Praxis eigentlich überhaupt gar keine Rolle. Wir haben den Vorrang seit 50, 60 Jahren etabliert und jetzt haben wir einmal in Deutschland den Fall gehabt, wo es in einem Urteil, was noch nicht mal passt. Und wo es sich auch gar nicht ausführt, weil das Programm einfach weiter geht, nicht so ist. Aber die tausenden Fälle, wo es in der Praxis passiert, jedes Jahr, nehmen wir gar nicht mehr zur Kenntnis, weil sie normal sind. Das heißt, wir hätten es in der Schwebe lassen müssen. Und in dem wir es jetzt auflösen, haben wir uns im Grunde, so habe ich es ja genannt, die Buchse der Pandora geöffnet. Jetzt werden alle Anfangen ihre Absolutheitsansprüche zu stellen und das wird notwendigerweise nicht gut ausgehen. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Der EUGH hat natürlich auch diesen Absolutheitsanspruch, den Sie gerade beschrieben haben, dann auch aufgegriffen und hat Polen am 27. Oktober zu einer Zahlung eines täglichen Zwangsgelds von einer Millionen Euro verurteilt, dass ist das höchste Zwangsgeld, was sich der EUGH wohl jemals verhängt hat. Polen reagiert mit einer starken Rhetorik. (B: Dritter Weltkrieg, unteranderen.) Dritter Weltkrieg, genau. Sie hatten gerade beschrieben, es ist sehr schwer da einen Ausweg zu finden. Mich würde es interessieren, wenn Sie es beschreiben können, wie die polnische Perspektive auf den Streit aussieht. Und es gibt natürlich nicht die polnische Perspektive, sondern sicher die Perspektive der polnischen Regierung und der verantwortlichen Justiz kennen wir. Die ist sehr deutlich ausgefallen. Aber es gibt sicherlich auch eine andere Perspektive. Können Sie uns dazu etwas sagen? 

PROF. ALEXANDER THIELE: Also interessanterweise ist weder die Peace-Regierung noch die Bevölkerung irgendwie willens aus der EU auszutreten. Das wäre im Grunde das naheliegendste, dass man sagt, wie bei einer Scheidung: „Es läuft nicht mehr rund, wir müssen irgendwann die Reisleine ziehen und wir trennen uns.“ Das möchte weder die Peace-Regierung noch die Bevölkerung, die teilweise sehr europafreundlich auch weiterhin ist. Und auch wichtig ist, dass wir nicht pauschal, von den Polinnen und Polen oder so sprechen. Das heißt, diesen Weg will auch die polnische Regierung nicht gehen. Und diese eine Millionen, da ist auch die Rhetorik in der Tat groß, ist tatsächlich nicht sonderlich viel für eine polnische Regierung. Das klingt jetzt erstmal verrückt. Es sind 365 Millionen im Jahr, das muss ja ein ganzes Jahr langlaufen. Man muss aber wissen, im Hintergrund läuft der Konflikt eigentlich über den Recovery Fund. Das ist dieser große Coronafond, wo sich die europäische Regierung jetzt auch erstmals Kredit aufnimmt und diese Gelder zum großen Teil quasi als nicht rückzahlbare finanzielle Hilfen an die Mitgliedsstaaten verteilt. Ich glaube bei nicht rückzahlbaren Hilfen geht es bei Polen um 24 Milliarden, also 24 Tausendmillionen und da kommen noch mal 12 Milliarden Kredite dazu, glaube ich. Wir reden also von 36 Tausendmillionen, um die sich die EU gerade jetzt mit Polen streitet. Und darum geht es natürlich jetzt ganz zentral. Dieses Geld braucht die polnische Regierung. Und das ist der Hebel an dem tatsächlich jetzt auch die europäische Union ansetzt. Es ist also nicht das Recht, was in irgendeiner Weise jetzt besonders hilfreich ist in dieser Konfliktsituation, sondern es ist wie fast immer in unserer kapitalistischen Welt, es ist das Geld. Es ist das Geld, was jetzt möglicherweise zu einer Lösung oder zu einer gewissen Annäherung führen kann. Denn die europäische Union sitzt (?nohlens) Wohlens am längeren Hebel, ob das rechtlich erlaubt ist oder nicht, kann man klären, dauert aber mehrere Jahre,. Denn sie hat das Geld und Polen will das Geld. Und das ist etwas, was die polnische Regierung natürlich außerordentlich misslich findet. Denn sie kann eigentlich nichts tun, um an dieses Geld zu kommen. Denn die europäische Union hat gesagt, sie verlangt, dass die Disziplinarkammer aufgelöst wird und all solche Dinge. Damit dann sichergestellt wird, dass das Geld, so wie sie es sagt, nicht veruntreut wird. Denn so die Argumentation, dafür brauchen wir eine vernünftige Gerichtsbarkeit, die man kontrollieren kann. Haben wir nicht, dann können wir es leider nicht auszahlen. Ist das tragfähig? Ist das wirklich ausreichend begründet, vor dem Hintergrund der Regelung des Recovery Fund? Da kann man sich sehr drüber streiten. Aber da kommt Jelinek ins Spiel, das ist dann die normative kraft des faktischen, die EU zahlt eben nicht. Und da kann sich Polen auf den Kopf stellen, sie können dann klagen. Zynischer Weise müssten sie dann bei EUGH klagen. Ein Gericht, dessen Urteile sie eigentlich nicht mehr anerkennen. Also das macht die Sache für die polnische Regierung jetzt nicht einfacher. Und ich glaube, da ist jetzt viel Rhetorik im Spiel, um irgendwie zu versuchen im Hintergrund Möglichkeiten auszuloten, wie man da eine gemeinsame Lösung finden kann, bei der beide Seiten nicht mehr das Gesicht verlieren. Und das ist fast nicht mehr möglich. Also nur noch sehr schwer, jedenfalls aus polnischer Sicht. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Jetzt gibt es diesen Rechtsstaatmechanismus, den ominösen Rechtsstaatmechanismus, seit kurzen, um auf gewisse Herausforderungen zu reagieren. Der wird jetzt auch immer wieder ins Spiel gebracht. Was ist denn darunter zu verstehen? 

PROF. ALEXANDER THIELE: Genau. Da ist ein Rechtsstaatmechanismus, der zusammen beschlossen wurde mit dem Recovery Fund. Mehr oder weniger war das ein Paket, was dann im Grunde als Gesamtpaket verabschiedet werden konnte. Und das war natürlich eine Reaktion auf Polen und Ungarn, wo idealerweise, so hat es sich die Kommission vorgestellt, quasi so ein scharfer Tiger etabliert wird, der bei Rechtsstaatverstößen jeglicher Art jetzt zuschlagen kann. Ganz so ist es aber nicht gekommen. Sondern es gibt eine Kopplung des Rechtsstaatmechanismus auf die finanzielle Situation beziehungsweise auf die Finanzmittel der europäischen Union. Das heißt, der Rechtsstaatfehler, der Rechtsstaatsdefizit in den Mitgliedsstaaten muss sich negativ auf die europäische Finanzlage, Haushaltslage, die Finanzgelder, Finanzmittel und so weiter auswirken. Da sieht man eben, dass es im Zusammenhang mit den Haushaltsdebatten eben auch beschlossen wurde. Und genau das ist jetzt quasi eine Einschränkung, die es nicht ganz so leicht macht, ihn anzuwenden. Das europäische Parlament, auch das ist eine interessante Entwicklung, verlangt tatsächlich, dass die europäische Kommission jetzt doch mal diesen europäischen Rechtsstaatmechanismus zieht. Das europäische Parlament hat jetzt Untätigkeitsklage tatsächlich eingereicht gegen die europäische Kommission, dass sie jetzt doch bitte mal in die Puschen kommt mit Polen und Ungarn. Sehr schwierig ob diese Klage zulässig und auch ob sie begründet ist. Aber es zeigt auch, dass intern politischer Druck natürlich vor allen Dingen aufgebaut werden soll auf die europäische Kommission, hier jetzt tätig zu werden und hier also dann gegen die Rechtsstaatdefizite in Polen und in Ungarn aktiver und schneller vorzugehen. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Zu was eine ziemlich düstere Lage im Anbetracht der Tatsache ist, dass auch viele andere Herausforderungen die europäische Union und die Mitgliedsstaaten beschäftigen und auch dort viele Lösungen-. 

PROF. ALEXANDER THIELE: Das ist glaube ich, was noch am meisten ärgert. Das für die europäische Integration, die europäische Union wirklich viele Probleme hat. Natürlich angefangen mit dem Klimawandel, der Flüchtlingsfrage, den Außengrenzen, soziale Ungleichheit. Es sind wirklich massive Probleme, die wir hier gerade haben. Und wir verschwenden hier massiv Ressourcen für so einen quatsch. Das ist das was am meisten ärgert. Diese Ressourcenverschwendung für Sachen. Der EUGH wird involviert, das Parlament schafft Resolutionen, klagt, die Kommission muss ständig Hintergrundgespräche mit Polen führen und anderen Mitgliedsstaaten. Die polnische Regierung kommt auch zu nichts, außer sich über die EU aufzuregen. Also es ist eine wahnsinnig Ressourcenverschwendung, die wir hier gerade betreiben vor dem Hintergrund einer Klimakrise, die nicht wartet. Und das ist glaube ich wirklich ärgerlich. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wobei man vielleicht auch sagen könnte, es geht hier um alles. Es geht hier um den absoluten Kernbestand der Verfassungsordnung der Union, die eben keine Verhandlungssache ist. Und die Sorge, die viele denke ich, haben und die auch diese scharfe Reaktion sowohl aus Luxemburg, aus Brussel, …#00:33:43# dass hier am Kern, an der Wurzel der Union gesägt wird. 

PROF. ALEXANDER THIELE: Deswegen ist es auch nicht lösbar. Die Verträge ruhen auf einem Fundament. Und die Verträge sind wunderbar, wenn es darum geht das was auf dem Fundament errichtet wurde durchzusetzen. Die Grundfreiheiten oder sowas. Aber das Fundament selbst kann das Vertragswerk, dass auf dem Fundament steht, nicht selber schützen. Das ist die Quadratur des Kreises. Das geht nicht. Es gibt gewisse Grundlagen, auf die wir uns geeinigt haben und die sind unverhandelbar. Und wenn sie doch verhandelbar werden, wenn sie in Zweifel gezogen werden, ist das Recht überfordert sie durchzusetzen. Das funktioniert nicht, wir versuchen es trotzdem die ganze Zeit. Mit dem Vertragsverletzungsverfahren, mit dem Artikel sieben Verfahren, dass wir noch gar nicht angesprochen haben. Das im Grunde ein relativ zahnloser Tiger ist im Rechtsmechanismus. Aber wenn ein Staat partout sagt, das Fundament akzeptiere ich nicht, dann werden wir auf diesem Wege nicht weiterkommen, sondern dann haben wir eine politische fundamentale Krise, die wir auch nur politisch lösen können und natürlich so ein bisschen über das Geld. Aber sind wir mal ehrlich, ist das Problem denn eigentlich gelöst, wenn wir Polen dazu bekommen einverstanden zu sein, damit sie diese 24 Milliarden bekommen und dann machen sie es drei Tage später wieder anders? Wenn an Werte nicht mehr intrinsisch geglaubt wird, wenn sie keine intrinsische Motivation haben, sich daran zu halten, dann sind Werte mit Zwang nicht durchsetzbar. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Ja. Das ist in so einem anderen Kontext angewandt, der (?böpenföderische) Satz, dass der freiheitliche Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. 

PROF. ALEXANDER THIELE: Im Grunde ist das genauso. Die europäische Union als supranationale Organisation lebt von der Voraussetzung, die sie selbst nicht garantieren kann, aber es natürlich trotzdem versucht. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Auf dieser ganz düsteren Note möchte ich natürlich nur ungern Enden. Es heißt auch, dass viele andere Mitgliedsstaaten sehr vereinzelt in der Anerkennung dieser Grundprinzipien des Ausscherens von Polen und Ungarn bislang sich auf diese Mitgliedsstaaten beschränkt und eine andere Option vielleicht für die anderen Mitgliedsstaaten stärker zusammenzuarbeiten ermöglicht haben. Sehen Sie denn auch sowohl politisch als auch europarechtlich anklänge für eine solche Entwicklung, zu einer stärkeren Union in verschiedenen Bereichen? 

PROF. ALEXANDER THIELE: Also ich bin eigentlich grundlegend immer optimistisch und finde fatalistische Untergangsgesänge anzustimmen ist in der Regel nicht unbedingt der Weg aus einer Krise. Trotzdem bin ich im Augenblick, was die Situation in Polen und Ungarn angeht, doch sehr skeptisch. Und ich glaube, wir werden dort innenpolitisch Lösungen finden müssen. Also, wenn tatsächlich die Peace-Regierung sich weiterhin an der Macht hält, und zwar mit demokratischen Mitteln, also wenn sie gewählt wird, und wenn das gleiche in Ungarn passiert, dann wird dieser Konflikt letztlich praktisch eigentlich ungelöst weiter Schwelen. Und wir werden keine wirkliche befriedigende Lösung finden. Es gibt so Radikallösungen, dass wir sie doch rausschmeißen, gestützt auf das Völkerrecht. Das wir dann so eine Art Wienervertragskommission doch heranziehen oder dass man irgendwie sagt, die Verweigerung des Vorrangs ist eine conclude Austritterklärung. Also das ist alles Versuche, die ich nicht überzeugend finde, die interessant mal zu durchdenken, aber sie gehen alle davon aus, dass man dieses Problem irgendwie rechtlich lösen kann. Ich glaube, dass können wir eben einfach nicht. Wir werden eine politische Lösung finden müssen. Und wie es mit der europäischen Union insgesamt weitergeht, werden wir auch sehen müssen, denn ich glaube wir durch den Brexit schon sehen, dass dort Entwicklungen eingetreten sind, die einfach mal die fundamentale Frage aufwerfen: „Was wollen wir eigentlich?“ Wir haben diese Frage so lange weggedrückt. Und so lange gesagt: „Lass man den Binnenmarkt machen, der Rest ergibt sich.“ Und jetzt sind wir so weit. Und jetzt stellen wir fest, dass wir unter Umständen doch mal ganz grundlegend überlegen müssen, wovon eigentlich die Legitimität eines Staatenverbundes abhängt? Und ich spreche von der Verbundlegitimität, die dieser Staatenverbund gemeinsam haben muss mit den Mitgliedsstaaten. Ich will, zum Beispiel, die Mitgliedsstaaten nicht überwinden. Ich möchte keinen Superstaat.  Sondern ich glaube wir müssen uns nochmal grundlegend überlegen müssen, das am Ende, bei allem pastos der immer wieder aufkommt, die europäische Union ein Herrschaftsverbund ist. Und die soll bestimmte Aufgaben lösen und die soll bestimmte Dinge tun. Und das muss gut funktionieren. Und das sollte sie gut machen im Zusammenspiel mit den Mitgliedsstaaten. Und wenn sie das hinbekommt und wenn sie das hinbekommen soll, müssen wir, glaube ich, über grundlegende Kompetenzzuweisungen noch mal nachdenken. Wir haben die Konferenz zur Zukunft Europas, die läuft gerade. Und ich bin da zwar skeptisch, aber ich würde mir wünschen, dass dort auch ein großer Wurf kommt, der nicht wieder einfach typischerweise dazu führt, dass die europäische Union einfach mehr Kompetenzen bekommt. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Lieber Professor Thiele, vielen Dank für diesen beeindruckenden Überblick über das wichtige Thema und ihren Ausblick. Ich danke Ihnen sehr viel für das Gespräch und den Gewinn, den Sie für uns heute mitgegeben haben. 

PROF. ALEXANDER THIELE: Ganz herzlichen Dank nochmal für die Einladung. Hat großen Spaß gemacht. DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Danke. Alles Gute Ihnen. 

Erwähnte Gerichtsentscheidungen

Die Entscheidung des EuGH im Original findet ihr hier.

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