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Völkerrechtsverbrechen vor deutschen Gerichten – mit Prof. Stefanie Bock

Jurafuchs Podcast #012 | Warum werden Verbrechen, die Anhänger:innen des Assad-Regimes und des IS in Syrien begangen haben, vor deutschen Gerichten aufgearbeitet? | OLG Koblenz, Urteil vom 13.01.2022 - 1 StE 9/19 - u.a.

Zusammenfassung

In aufsehenerregenden aktuellen Verfahren haben deutsche Strafgerichte vier Personen wegen Völkerrechtsverbrechen verurteilt, die diese in Syrien verübt haben. Das OLG Koblenz verurteilte zwei Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes wegen fürchterlicher Gräueltaten in einem Gefängnis des Assad-Regimes in Damaskus (OLG Koblenz, Urt. v. 13.01.2022 - 1 StE 9/19 - sowie OLG Koblenz, Urt. v. 24.02.2021 - 1 StE 3/21). Das OLG München und das OLG Frankfurt a.M. verurteilten eine deutsche Frau und ihren Ehemann wegen Verbrechen, die diese als Angehörige der Terrormiliz Islamischer Staat an einer Jesidin und ihrem Kind in Syrien verübt haben. Es handelt sich um die weltweit ersten Strafprozesse wegen Verbrechen im Kontext des syrischen Bürgerkriegs.

Professorin Stefanie Bock, Inhaberin der Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Rechtsvergleichung an der Philipps-Universität Marburg und Direktorin des Internationalen Forschungs- und Dokumentationszentrums Kriegsverbrecherprozesse (ICWC), erläutert diese Verfahren und ordnet sie in ihren historischen und juristischen Kontext ein. Sie erklärt, wie die Straftäter:innen vor deutsche Gerichte gekommen sind und welche Völkerrechtsverbrechen im Raum stehen. Sie führt ein in das Völkerstrafrecht und macht deutlich, wie das Völkerstrafrecht im deutschen Recht wirkt und warum hier deutsche Strafgerichte überhaupt zuständig sind (Weltrechtsprinzip). Professorin Bock legt auch dar, wie in diesen Verfahren Beweise erhoben wurden und welche Rolle die Opfer der Verbrechen dabei spielten. Und sie ordnet ein, welche immense Bedeutung diese Entscheidungen deutscher Strafgerichte für die internationale Strafgerichtsbarkeit und den weltweiten Kampf gegen Straflosigkeit von Völkerrechtsverbrechern haben. 

Interview (Transkript)

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Willkommen bei Spruchreif, dem Rechtsprechungspodcast von Jurafuchs, in Kooperation mit dem Nomos-Verlag. Mein Name ist Wendelin Neubert und zusammen mit meinen Gäst*innen gehe ich dem Kontext und den Hintergründen aktueller Gerichtsentscheidungen auf die Spur.

PROF. STEFANIE BOCK: Das Besondere der internationalen Verbrechen liegt darin, dass wir nicht einen Täter und ein Opfer haben, sondern das Ganze in einen gesamtgesellschaftlichen Konflikt eingebunden ist. Die Begehung internationaler Verbrechen ist keine innere Angelegenheit eines Staates. Das Zeichen, das von solchen Verfahren ausgeht, ist hier einfach das klare Signal: Es gibt keinen sicheren Hafen für Völkerrechts-Verbrecher.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Mein Gast ist Professorin Stefanie Bock. Sie ist Inhaberin der Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Rechtsvergleichung an der Philipps Universität Marburg. Und sie ist Direktorin des Internationalen Forschungs- und Dokumentationszentrums Kriegsverbrecherprozesse. Seien Sie herzlich willkommen.

PROF. STEFANIE BOCK: Vielen Dank. Ich freue mich, hier zu sein.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wir sprechen über Völkerrechtsverbrechen vor deutschen Gerichten. In mehreren aktuellen Verfahren haben deutsche Strafgerichte sowohl Schergen des Assad-Regimes als auch Anhänger der Terrormiliz Islamischer Staat zu hohen Haftstrafen verurteilt, für Völkerrechtsverbrechen, die diese in Syrien verübt haben. Liebe Frau Professorin Bock, lassen Sie uns anfangen. In beiden Verfahren gegen Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes, welcher Sachverhalt liegt diesem Verfahren zugrunde?

PROF. STEFANIE BOCK: Also der Sachverhalt spielt vor dem Hintergrund des syrischen Bürgerkrieges, der im Kontext des arabischen Frühlings steht. Der griff 2011 von Tunesien auf Syrien über, sodass es dann auch in Syrien die Forderung nach Reformen, politischen Freiheiten und Menschenrechten gab. Und daraus entwickelte sich dann eine relativ starke Opposition auch gegen das regierende System und insbesondere gegen den Präsidenten Assad. Der entschied sich dann sehr rigoros gegen diese Bewegung vorzugehen, hat dann im April 2011 die sogenannte Zentrale Stelle für Krisenmanagement gegründet. Deren Ziel war es, die Regierung um jeden Preis zu stabilisieren. Insbesondere sind die Mitarbeiter sehr gewaltsam gegen Demonstranten vorgegangen, auch ganz bewusst, um die Bevölkerung vor der Teilnahme an solchen Demonstrationen abzuschrecken. Es gab tödlichen Schusswaffengebrauch und in unserem Kontext wichtig auch Verschleppung in Gefängnisse des syrischen Geheimdienstes. Und als Gegenreaktion darauf bildeten sich dann bewaffnete Widerstandsgruppen in der Bevölkerung und das Ganze eskalierte zu einem mittlerweile über zehn Jahre währenden blutigen Bürgerkrieg. Und das ist so das Setting, in dem dann der Fall im Oberlandesgericht Koblenz spielt.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay. Jetzt haben wir hier in diesem Verfahren zwei mutmaßliche Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes. Wie kommt es jetzt dazu, dass diese den deutschen Strafverfolgungsbehörden in die Finger gekommen sind?

PROF. STEFANIE BOCK: Ja, beide sind von sich aus freiwillig nach Deutschland gekommen. Beide bezeichnen sich selber als Deserteure, sagen, sie haben dem Regime Assad freiwillig den Rücken gekehrt. Bei dem ersten Angeklagten Ayad A. Ist das auch deutlich plausibler. Der hat sich bereits Anfang 2012 vom Regime abgewandt und ist dann nach Deutschland gekommen. Und Anwar R., der Hauptangeklagte, der da in einer Leitungsfunktion war, der ist erst Ende des Jahres, im Dezember 2012, nach Deutschland gekommen. Der Zeitpunkt ist deswegen wichtig, weil im Dezember 2012 die Situation für das Assad-Regime nicht gut aussah. Da war es sehr kritisch und deswegen stellt sich die Frage: War das wirklich eine sehr bewusste Abkehr vom Assad-Regime oder doch ein taktischer Rückzug vor der sich dort abzeichnenden Übermacht der Rebellen? Und beide sind dann in Deutschland gelandet. Anwar R. Hat sogar selbst im Asylverfahren ausgesagt von dem, was er in Syrien getan hat und hatte so ein bisschen die Erwartung, dass er sozusagen mehr als Held und jemand, der sich von dem Regime abgewandt hat, hier in Deutschland empfangen wurde. Und war dann etwas überrascht, als hier strafrechtliche Schritte eingeleitet wurden.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay. Diesen beiden Männern werden zahlreiche Taten in einem Foltergefängnis des Syrischen Allgemeinen Geheimdienst, der Abteilung 251, vorgeworfen. Das gehört zu den brutalsten und übelsten Taten, die man sich in solchen Bürgerkriegen vorstellen kann. Aber vielleicht helfen Sie uns mal, den Rahmen zu verstehen. Was wird den Männern vorgeworfen?

PROF. STEFANIE BOCK: Es geht um dieses eine Gefängnis in Damaskus. Der Angeklagte Anwar R. Soll da in leitender Funktion fungiert haben, in diesem Gefängnis des Geheimdienstes. In dem Zeitraum, um den es geht, das ist ungefähr ein Jahr, sollen ungefähr 4000 Gefangene in dieses Gefängnis gebracht worden sein und dort unter furchtbarsten Bedingungen dann untergebracht worden sein. Es gab zum Beispiel die sogenannte Welcome-Party. Das bedeutete, dass die neu eingetroffenen Gefangenen, die auch überhaupt nicht wussten, warum sie festgenommen worden sind, auf dem Weg zu ihren Zellen dann von allen Wärtern zusammengeschlagen wurden. Diesen Willkommensmarsch haben auch schon einige Gefangene nicht überlebt. Dann mussten sie sich entkleiden und wurden nackt unter demütigenden Umständen einer Art angeblichen Sicherheitsuntersuchung unterzogen. Und dann gab es diesen Aufenthalt im Gefängnis selbst. Das Gefängnis war absolut überfüllt, katastrophale hygienische Bedingungen. Die Gefangenen konnten teilweise nur im Stehen schlafen, weil es nicht hinreichend Platz gab, um sich überhaupt hinzusetzen. Keine ausreichende Versorgung mit Nahrung und dann zwischendurch immer wieder Vernehmungen unter Anwendung von Folter. Außerhalb der Folter, Befragungen, dann Übergriffe durch die Aufseher. Und das Ganze auch bewusst so angelegt, dass die Schreie der Gefolterten im ganzen Gefängnis hörbar waren für alle Gefangenen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Furchtbar. Furchtbarste Umstände. Diese beiden Männer sind also den deutschen Strafverfolgungsbehörden zugeführt worden. Wir kommen später noch mal auf die konkrete rechtliche Bewertung, aber jetzt erst mal zu diesem Sachverhalt. Wir haben aber noch im ähnlichen historischen Kontext und auch im ähnlichen regionalen Kontext Verfahren, die auch aktuell von deutschen Gerichten verhandelt wurden. Dort geht es um Völker-Straftaten, die durch Angehörige des Islamischen Staates verübt wurden. Was ist da passiert?

PROF. STEFANIE BOCK: Der Islamische Staat ist eine dschihadistische Bewegung, die sich im Kontext der Invasion der USA im Irak, mit dem Staat Saddam Husseins da wirklich zum Leben erweckt wurde und sich da rekrutiert hat und dann immer weiter gegangen ist. Also zuerst hatte der Islamische Staat Anspruch auf Irak, später, auch mit der Destabilisierung in Syrien, wurde der Anspruch auf Syrien mit ausgedehnt, bis dann 2014 der Höhepunkt war und das allgemeine Kalifat ausgerufen wurde. Also ein Gottesstaat islamistischer Prägung. Wobei im Zentrum steht, dass es diese Dschihad-Bewegung ist, das heißt der aktive Kampf gegen die Ungläubigen. Und speziell als ungläubig eingestuft werden die Jesiden. Das ist eine ethnisch religiöse Gruppe, die dort lebt. Und da gab es im April 2014 einen sehr brutalen Überfall auf das Haupt-Siedlungsgebiet der Jesiden mit wohl 5000 Toten. Zwischen sechs- und siebentausend Frauen und Kindern sind dort entführt worden, mehrere hunderttausende Menschen seitdem auf der Flucht. Und was für das Verfahren jetzt vor den Oberlandesgericht München und Frankfurt spannend ist, ist, dass die Frauen, die dort festgenommen worden sind, teils zu einem regen Handel wurden, Frauenhandel. Diese Frauen wurden als Haushalts- und Sexsklavinnen dann weiterverkauft.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Okay. Und in diesen beiden Verfahren vor dem Oberlandesgericht München und Oberlandesgericht Frankfurt geht es um einen Mann und eine Frau, die Anhänger des IS waren und die die Opfer, um die es hier geht, als solche Haus- beziehungsweise Sexsklavinnen gehalten haben. Auch das ist ein besonders fürchterlicher Sachverhalt. Helfen Sie uns trotzdem noch einmal zu verstehen, was dort passiert ist und den Angeklagten vorgeworfen wird.

PROF. STEFANIE BOCK: Da geht es um ein Ehepaar, und zwar ist das die deutsche Jennifer W., die irgendwann dorthin gefahren ist, um sich dem Kampf des Islamischen Staates anzuschließen. Und dort ist sie dann mit einem Kämpfer des Islamischen Staates Taha al-J. Verheiratet worden. Und Taha al-J. Hat dann eine jesidische Sklavin gekauft, mit einer 5-jährigen Tochter. Die Sklavin musste primär Hausarbeit verrichten, ist aber auch, so ist es zumindest im Moment umschrieben, nachts an männliche Nachbarn ausgeliehen worden. Da dürfte es dann möglicherweise nicht nur um Hausarbeit gegangen sein. Jedenfalls sind sowohl Mutter und Tochter immer hart diszipliniert worden, gezwungen worden, die religiösen Gebräuche des Ehepaares zu übernehmen und sind auch viel geschlagen worden. Und eine Disziplinierung war, dass Mutter und Tochter barfuß oder auch gegebenenfalls nackt in den Hof des Hauses gestellt worden sind. Und da sind wir in einem Bereich, wir haben so 38 bis 51 Grad bei direkter Sonneneinstrahlung und das Ganze ohne Wärmeschutz. Die Mutter wurde dann rechtzeitig reingeholt. Die 5-jährige Tochter hat dann eines Tages ins Bett gemacht, worauf dann der Herr des Hauses sehr empört war und das Kind dann auf dem Hof in der prallen Sonne gefesselt hat. Und, die Beweisaufnahme war sehr schwierig, aber im Ergebnis gehen die Gerichte davon aus, dass das Kind daran dann in Folge der Dehydrierung gestorben ist.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Danke schön. Auch das ein Sachverhalt, der von der menschenverachtenden und grausamen Handlungsweise schwer zu ertragen ist. Lassen Sie uns also vielleicht einen Schritt zurückgehen und wechseln auf die strafrechtliche Ebene. Es geht ja hier um Völkerstrafrecht. Bevor wir uns noch einmal nachher rechtlich detailliert mit diesen beiden Komplexen befassen, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie für uns zunächst einmal die Grundlagen des Völkerrechts skizzieren könnten. Vielleicht fangen wir einfach mal an, seit wann es eigentlich Völkerstrafrecht gibt beziehungsweise was so wesentliche Meilensteine internationaler Strafjustiz sind.

PROF. STEFANIE BOCK: Also, wenn wir in das moderne Völkerstrafrecht gucken, ist eigentlich immer der erste Anhaltspunkt, der Versailler Vertrag nach dem Ersten Weltkrieg. Da gab es immerhin schon einmal die Idee, dass man den deutschen Kaiser vor einem internationalen Gerichtshof zur Verantwortung ziehen würde, etwas verklausuliert formuliert, wegen Verletzung der internationalen Verträge und der internationalen Moral. Gemeint war damit das Verbrechen des Angriffskrieges, was man etwas umschrieben hat. 
Zu diesem Verfahren ist es dann nicht gekommen. Aber die Idee war auf einmal geboren. Also überhaupt die Idee, dass Krieg etwas regulierbares ist, dass Krieg nicht einfach nur die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist und damit über dem Recht steht, sondern dass es Regeln gibt, an die man sich halten muss. Und diese Idee kam dann schon im Laufe des Zweiten Weltkriegs, während des Krieges wieder auf. Und das hat dann ja bekanntermaßen zu den Nürnberger Prozessen geführt, wo wir dann die Hauptverantwortlichen auf deutscher Seite vor Gericht hatten. Und das war die Geburtsstunde des modernen Völkerstrafrecht.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Das finde ich immer faszinierend, dass mit dem Völkerstrafrecht gewissermaßen auch ein Paradigmenwechsel in den internationalen Beziehungen eingezogen ist. Und zwar, dass nicht nur die betroffenen Staaten, die möglicherweise völkerrechtswidrig gehandelt haben, dafür zur Rechenschaft gezogen wurden, wegen Verletzungen des klassischen Völkerrechts. Sondern das ist eine individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit der handelnden Personen gab. Also, dass die Täter und Täterinnen sich vor nationalen und internationalen Strafgerichten verantworten müssen und bei entsprechender Beweislage nach Verurteilung auch ins Gefängnis gehen müssen oder in den Nürnberger Prozessen eben auch zum Tode verurteilt wurden.

PROF. STEFANIE BOCK: Ja, das ist ja sozusagen die hybride Natur des Völkerstrafrecht. Dass wir einmal die völkerrechtlichen Regelungen nehmen und sie aus dem reinen Staaten-Kontext herausnehmen und auf einmal das Individuum als Subjekt des Völkerrechts entdecken. Und zwar so als Subjekt des Völkerrechts, dass es nicht nur geschützt wird, wie wir es bei den Menschenrechten kennen, sondern auch Verantwortung übernehmen kann. Und das ist die Kernidee, die dann halt sehr pointiert in Nürnberg formuliert wurde mit "Völkerrechtliche Verbrechen werden von Menschen begangen, nicht von abstrakten Entitäten".

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Und das findet dann Fortsetzung im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts und des frühen 21. Jahrhunderts. Vielleicht können Sie uns da noch einmal ganz kurz mitnehmen. Da gibt es ja auch einige wesentliche Meilensteine, die uns bis heute prägen.

PROF. STEFANIE BOCK: Zuerst war man dann nach Nürnberg ganz engagiert und wollte auch auf Ebene der UN die Nürnberger Prinzipien festzurren und einen Internationalen Strafgerichtshof gründen, die Idee weiterführen. Aber dann kam der Kalte Krieg dazwischen und ein, auf Diplomatie und Austausch angelegtes Völkerrecht oder gar Völkerstrafrecht war zu der Zeit nicht mehr denkbar. Eigentlich galt auch Völkerstrafrecht sozusagen als totes Recht. Das hatte man einmal in Nürnberg und dann war es das auch gewesen. Und dann kam allerdings historisch das, womit zu dem Zeitpunkt keiner mehr gerechnet hatte. Wir hatten einen grausamen Krieg im Herzen Europas, also vor den Augen der westlichen Welt in Jugoslawien, mit unglaublicher Brutalität und unglaublichen Opfern und parallel den Völkermord in Ruanda. Dann kam doch dieses Bedürfnis wieder, handeln zu müssen und dann war die Idee da. Dann hat der UN-Sicherheitsrat die Ad-hoc Tribunale für Jugoslawien und Ruanda errichtet, die speziell für diese Konflikte zuständig sind. In diesem Kontext und in dieser Dynamik hat sich dann der Internationale Strafgerichtshof entwickelt. Das ... #00:15:59# Statut, wurde 1998 dann in Rom beschlossen und ist dann ein paar Jahre später in Kraft getreten als permanenter Strafgerichtshof mit potenziell universeller Zuständigkeit.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Jetzt stellt sich ja die Frage: Welche Taten stellt das Völkerstrafrecht unter Strafe?

PROF. STEFANIE BOCK: Da haben wir die klassischen vier Kernverbrechen. Das sind Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Lassen Sie uns gerne der Reihe nachgehen. Was ist jetzt ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

PROF. STEFANIE BOCK: Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit zeichnet sich durch ein Kontext-Element aus. Es ist immer die Frage, was ein Verbrechen, einen Mord, Folter, zu einem internationalen Verbrechen macht. Es ist die Einbettung der Einzeltat in einen kollektiven Kontext. Das Besondere der internationalen Verbrechen liegt darin, dass wir nicht einen Täter und ein Opfer haben, sondern das Ganze in einen gesamtgesellschaftlichen Konflikt eingebunden ist. Bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist das der ausgedehnte oder systematische Angriff gegen die Zivilbevölkerung, die wir als Kontext haben. Und innerhalb, sozusagen im Zusammenhang mit diesem Kontext, werden dann bestimmte Taten begangen, also Tötung, Folter, sexuelle Übergriffe, Verfolgung und Ähnliches.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Was ist denn der entsprechende Kontext beim Kriegsverbrechen?

PROF. STEFANIE BOCK: Bei den Kriegsverbrechen besteht der Kontext im bewaffneten Konflikt, also einer groß angelegten gewaltsamen Auseinandersetzung. Wobei diese Auseinandersetzung zwischen zwei Staaten geführt werden kann, dann sprechen wir von einem internationalen bewaffneten Konflikt oder zwischen einem Staat und bewaffneten Gruppen, zum Beispiel Rebellengruppen. Dann sprechen wir von einem nicht internationalen bewaffneten Konflikt.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Da ist es nach meinem Verständnis so, dass dann das Völkerrecht rekurriert auf bestimmte völkerrechtliche Regelungen, die spezifisch verletzt sein müssen. Was sind das für Regeln?

PROF. STEFANIE BOCK: Wir haben zum Beispiel die Regeln aus den Genfer Konventionen, wo bestimmte Regeln zur Kriegsführung niedergelegt werden, zum Beispiel, dass Kriegsgefangene nicht getötet werden dürfen, dass Krankenhäuser nicht bombardiert werden, solange sie eine zivile Bedeutung haben. An diese Regeln knüpft das Kriegs-Völkerstrafrecht an und stellt diese Verletzungen dieser Regeln unter Strafe. Mittlerweile sehr konkret. Der Artikel acht des Statut des Internationalen Strafgerichtshof geht ungefähr über zweieinhalb Seiten, wo auch sehr dezidiert aufgeführt wird, welche einzelnen Kriegshandlung unter Strafe stehen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Was macht den Völkermord aus?

PROF. STEFANIE BOCK: Der Völkermord unterscheidet sich ein bisschen von den beiden anderen, weil er kein ganz so offensichtlich bestehendes Kollektiv-Element hat. Das Besondere beim Völkermord liegt auf der subjektiven Ebene, dass nämlich der Täter in der Absicht, eine geschützte Gruppe, religiöse Gruppe, ethnische Gruppe, rassische Gruppe, als solche zu zerstören. Das heißt, der Täter geht gegen bestimmte Mitglieder einer Gruppe vor, weil sie dieser Gruppe angehören, und er spricht dieser Gruppe an sich das Existenzrecht ab. Und das ist das besondere beim Völkermord.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Und das Verbrechen der Aggression? Das ist ein Völker Straftatbestand, der erst in jüngerer Zeit auch konkretisiert wurde. Was versteht man darunter?

PROF. STEFANIE BOCK: Das ist ein hochkomplexer Tatbestand, weil er sehr politisch ist. Hier haben wir eine enge Anknüpfung an die Charta der Vereinten Nationen. Es geht darum, dass in der Charta der Vereinten Nationen ein Gewaltverbot steht, also ein Verbot, Krieg zu führen. Verletzungen dieses Gewaltverbotes sind unter bestimmten Voraussetzungen strafbar. Aber diese Verletzung muss schwerwiegend und offenkundig sein. Wir haben eine erhebliche Schwellenklausel, die da mit drinnen hängt, um Grenzbereiche herauszunehmen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Nach Ihren Ausführungen wird klar, dass diese Straftaten völkerrechtlichen Ursprung haben. Deshalb heißt es ja auch Völkerstrafrecht. Aber Sie haben auch schon angerissen, diese Völker Straftaten sind normiert, sind normiert im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. Sie nehmen Rekurs auf andere völkerrechtliche Regeln, die Genfer Konvention und andere. Wie kommt das Völkerstrafrecht nun im deutschen Recht zur Wirkung?

PROF. STEFANIE BOCK: Das Statut des Internationalen Strafgerichtshof beruht auf der Idee der Komplementarität, also der geteilten Zuständigkeit zwischen Internationalem Strafgerichtshof und Nationalstaaten. Es war von vornherein klar, dass der Internationale Strafgerichtshof nur ganz wenige Fälle wird selbst verhandeln können. Dass also die Hauptarbeit auf Ebene der Nationalstaaten getan werden muss. Und deswegen regt das Statut von Rom an, dass die Strafverfolgung auf nationaler Ebene stattfindet, und räumt insoweit auch den Nationalstaaten Vorrang ein. Diese Möglichkeit hat Deutschland genutzt und hat das Völkerstrafgesetzbuch geschaffen. Es hat also die vier Kernverbrechen in das nationale Strafrecht übernommen und damit die Grundlage für die Verfolgung völkerrechtlicher Verbrechen in Deutschland geschaffen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Jetzt haben wir also verstanden, welche Straftaten das Völkerrecht unter Strafe stellt und wie das Völkerstrafrecht ins deutsche materielle Strafrecht inkorporiert wird. 
Sie hatten gerade schon angesprochen, dass es eine geteilte Zuständigkeit gibt. Zumindest ist das Konzept des Internationalen Strafgerichtshofs, der IStGH verfolgt bestimmte Straftaten, aber auch die nationalen Gerichte. Warum sollen jetzt eigentlich deutsche Strafverfolgungsbehörden und deutsche Strafgerichte dafür zuständig sein, Straftaten zu verfolgen, die fernab des deutschen Hoheitsgebietes von Staatsangehörigen anderer Staaten verübt wurden, und zwar auch an Opfern, die wiederum nicht selbst deutsche Staatsangehörige sind.

PROF. STEFANIE BOCK: Das ist insbesondere eine Frage, die ganz massiv den Koblenz Fall betrifft, da wir da ein rein syrisches Setting haben. Wir haben syrische Täter, syrische Opfer und einen syrischen Tatort, also überhaupt keinen Bezug zu Deutschland. Die Strafverfolgung basiert hier auf dem Universalitätsprinzip, dass Deutschland berechtigt, Strafverfolgung ohne inländischen Anknüpfungspunkt zu verfolgen. Die Idee, die dahintersteht ist, dass bestimmte Straftaten, nämlich die völkerrechtlichen Kern Verbrechen, so schwerwiegend sind, dass sie immer alle Staaten der Welt betreffen, dass also immer alle Staaten involviert sind und dass Deutschland jetzt als Stellvertreter für die internationale Staatengemeinschaft handelt, wenn es die Taten in Koblenz verfolgt. Die Begehung internationaler Verbrechen ist keine innere Angelegenheit eines Staates. Das ist die Grundidee, warum ein Staat sagen darf, ich schließe andere Staaten von einer Zuständigkeit aus, weil er sagt, das ist das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, die darf und kann ich selbst regeln. Wenn ich hier keinen anderen Staat haben will, dann darf ich auch kein anderer Staat reingehen. Das ist aber die Lehre, die wir aus Nürnberg gezogen haben, dass wir da gesehen haben, bei den Straftaten, die die Nazis begangen haben. Es gibt Straftaten, die sind so schwerwiegend, da kann kein Staat sagen, das betrifft nur mich, sondern das erschüttert die gesamte Staatengemeinschaft und damit wird das Souveränitätsargument quasi überspielt.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Was wäre denn, wenn jetzt beispielsweise die syrische Justiz oder die irakische Justiz gegen diese Straftäter in Syrien oder im Irak vorgehen würde? Hätte das Auswirkungen auf die Zuständigkeit Deutschlands oder des Internationalen Strafgerichtshofs?

PROF. STEFANIE BOCK: Checken wir das einmal ab. Bei Deutschland ist es der Paragraf 153f StPO, der in Kombination mit dem Völkerstrafgesetzbuch geschaffen wurde. Das ist ein relativ komplexes Zuständigkeit Regime und dient eigentlich dazu, der Staatsanwaltschaft ein gewisses Verfolgungsermessen zu geben. Wir haben ja vom Prinzip her das Legalitätsprinzip. Das heißt, grundsätzlich müssen in Deutschland ja alle Straftaten verfolgt werden, die in die Zuständigkeit der deutschen Justiz fallen. Bei Völkerstrafverbrechen war von vornherein klar, das wird nicht funktionieren, das ist nicht praktikabel, wir brauchen ein Ermessen. Im Wesentlichen baut diese Vorschrift in der StPO ein dreistufiges Zuständigkeitssystem auf. Zunächst sollen erst einmal die Tat-nahen Staaten verfolgen, also Täter-Staat, Opfer-Staat, Tatort-Staat. Das sind die Staaten, die primär zuständig sind. Sekundäre Ebene der Internationale Strafgerichtshof. Und wenn die alle nicht tätig werden, dann Deutschland auf Basis des Universalitätsprinzips. Insbesondere dann, wenn die Beschuldigten in Deutschland Aufenthalt genommen haben. Jetzt erkennen wir, dass das Assad-Regime kein großes Interesse hat, da irgendwelche Strafverfolgung einzuleiten. Und der Internationale Strafgerichtshof ist in der Tat nicht zuständig, denn Syrien ist ein Nicht-Vertragsstaat. Was dann möglich ist in diesen Nicht-Vertragsstaaten-Szenarien wäre, dass der Sicherheitsrat eine Situation überweist. Das scheitert aber in der Syrien-Konstellation am Veto von Russland und damit ist eine internationale Strafverfolgung um Syrien komplex ausgeschlossen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Das ist spannend, weil in dieser Konstellation die internationale Strafjustiz zwingend durch die nationalen Gerichte von Drittstaaten vollzogen werden muss, um überhaupt diesem Strafanspruch zur Geltung zu verhelfen. Jetzt lassen Sie uns diese Grundlagen auf unsere Fälle anwenden. Zunächst die beiden Verfahren gegen die Mitarbeiter des Assad-Regimes. Zu welchen Straftaten wurden die beiden vom OLG Koblenz verurteilt?

PROF. STEFANIE BOCK: Sehr unterschiedlich, weil auch die Beteiligung ganz unterschiedlich war. Ayad A., der erste Angeklagte, dem wurde nachgewiesen, dass er als untergeordneter Mitarbeiter des Geheimdienstes verantwortlich war für die Festnahme von Demonstranten, die er dann auch in dieses Gefängnis des Geheimdienstes gebracht hat. Er selber war aber, soweit das Gericht festgestellt hat, nicht in dem Gefängnis tätig, sondern hat sozusagen nur die Gefangenen zugeliefert. Diesen Verfahrensteil hatte das Oberlandesgericht dann auch schon bereits im Februar 2021 abgetrennt und Ayad A. Zur Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt, ist also da auch der untergeordneten Rolle des ersten Angeklagten gerecht geworden. Der zweite Angeklagte Anwar R., da war die Situation anders, der hatte diese herausgehobene Stellung. Er wurde als Leiter und Hauptverantwortlicher dieses ganzen Gefängniskomplexes gerade für diesen Bereich Vernehmung angesehen. Allerdings ist das Gericht auch zu dem Schluss gekommen, dass Anwar R. Nicht persönlich gehandelt hat, also nie eigenhändig Taten begangen hat. Einer der Zeugen hat auch gesagt, er hätte sich niemals selbst die Hände schmutzig gemacht. Dennoch hat das Gericht hier auf Mittäterschaft erkannt und hat gesagt, durch die Leitung, Aufteilung der Arbeitspläne, habe er einen hinreichenden Tatbeitrag zu diesem Gesamtgeschehen erbracht und sei deswegen für alles, was in diesem Gesamtkomplex passiert ist, verantwortlich. Und dann wurde Anwar R. Wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form der Tötung, Folter und sexuellen Gewalt in Tateinheit mit mehrfachem Mord zur lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: In diesem Fall in besonderer Weise, aber auch in vielen anderen Fällen internationaler Strafjustiz stellt sich ja zuallererst die Frage, wie vorliegend die Beweise erhoben wurden, dass die beiden Männer Mitarbeiter des Assad-Regimes waren. Oder noch viel weitergehend, wie sie beschrieben haben, dass Anwar R. Sich nie die Hände schmutzig gemacht hat und überhaupt, wie viele Personen dort unter welchen Umständen zu welchem Zeitpunkt misshandelt, gefoltert und getötet wurden. Wie hat die Anklage hier Beweise erhoben?

PROF. STEFANIE BOCK: Ist natürlich immer eine der ganz großen Fragen, wie ich diese Entfernung bei der Beweisaufnahme überbrücken kann. Da sieht man auch zum Beispiel, wie komplex die Verteidigungsstrategie war von Anwar R.. Er hat zum Beispiel gesagt, er war ab einem bestimmten Zeitpunkt nur noch pro forma eingesetzt in dem Gefängnis. Eigentlich hätte schon eine ganz andere Einheit die Macht über dieses Gefängnis übernommen und er habe überhaupt gar keine Kontrolle mehr. Er sei nur noch eine Puppe gewesen und hätte versucht, soweit es geht, irgendwelche Leute zu retten, hätte auch die schlechten Verhältnisse immer wieder angeprangert, die in dem Gefängnis waren. Da steht natürlich das Gericht vor der Herausforderung: Wie gehe ich mit diesem Einwand um, wie kann ich das Ganze nachprüfen? Hier konkret war es so, dass wir einmal die Angaben hatten, die Anwar R. Selbst gemacht hat in seinem Asylverfahren, der ja zunächst relativ freigiebig erzählt hat von seiner Position, weil er das komplett falsch eingeschätzt hat, wie die Reaktion der deutschen Strafjustiz darauf sein würde. Und auch der zweite Angeklagte Ayad A. Hat zwar geschwiegen im Prozess, hat aber auch im Asylverfahren Aussagen gemacht. Zunächst hat er nur gesagt, er habe gesehen, dass da schlimme Taten begangen worden sind. Dann hat er aber auch mehr und mehr seine Rolle bei den Festnahmen eingeräumt und dabei dann auch zeitgleich Anwar R. Belastet und über dessen Rolle in dem Gefängnis erzählt, sodass wir Insider-Zeugen haben. Und das gab es mehrmals an der Stelle, dass die Anklage an Insider-Zeugen herangekommen ist. Ein weiterer Punkt ist natürlich, dass aus den Interviews über das Asylverfahren mit den Geflüchteten dann Informationen kommen, die dann möglicherweise als Zeugen herangezogen werden können. Und speziell in Syrien hat man ja die ... #00:31:14# Bilder, also die Fotos, die von einem syrischen Militärfotografen angefertigt worden sind, die dann auch noch mal der Dokumentation der Verbrechen vor Ort dienen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Diese Fotos, die wurden auch genau in diesem Gefängnis angefertigt und dokumentieren eben diese Straftaten auf erschreckende Art und Weise und im Detailgrad. Sie hatten aber auch vorhin angesprochen, dass mehrere Opfer im Rahmen der Nebenklage aufgetreten sind. Welche Rolle spielen die Opfer in den Verfahren, gerade auch für die Sachverhaltsaufklärung und die Beweiserhebung?

PROF. STEFANIE BOCK: Natürlich eine ganz große, weil das ist das, wo die deutsche Justiz herankommt. Und für die Opfer ist es natürlich eine unglaubliche Belastung, da noch einmal aussagen zu müssen. Wir müssen auch immer daran denken, wir haben eine Situation, in der das Regime noch an der Macht ist. Das heißt, da ist auch ganz große Angst, dass es zu Vergeltungsmaßnahmen kommt, entweder gegen sie oder Angehörige, die gegebenenfalls noch in Syrien sind. Also die ganz große Frage nach der Sicherheit, die deutsche Justiz sicherlich auch nicht gewährleisten kann, jedenfalls auf keinen Fall mit Blick auf eventuelle Angehörige in Syrien. Und dann natürlich auch das Problem, wie verlässlich Aussagen sein, Schilderungen von Erlebnissen, sein, die unter solchen Extremsituationen gemacht werden. Wir haben natürlich Zeugen, die stark traumatisiert sind von den Erfahrungen, die sie da gemacht haben in diesem Gefängnis, wenn sie dieses Gefängnis überlebt haben und da wieder herausgekommen sind. Das ist natürlich auch eine ganz schwierige Frage für die Justiz. Wie kann ich solche Zeugen vernehmen? Wie kann ich den Wahrheitsgehalt dieser Aussagen würdigen? Umso wichtiger ist eigentlich immer der Punkt, dass man auch irgendwie Insider-Informationen bekommt, also mögliche Mittäter, die dann über die Aussicht auf Strafrabatt im eigenen Verfahren mit aussagen, dass man darüber auch Beweiskette aufbauen kann.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Nun haben wir diese Verurteilungen, die eine schon vom Februar letzten Jahres, die andere von vergangener Woche. Diese Entscheidungen werden charakterisiert als Meilensteine der internationalen Strafjustiz vor deutschen Gerichten. Vielleicht gehen wir aber noch einmal ein auf die beiden Entscheidungen in den Verfahren gegen die Anhänger*innen des IS, Jennifer W. Und ihren Partner vor dem Oberlandesgericht Frankfurt und Oberlandesgericht München. Welche Vorwürfe stehen hier im Raum? Das sind ja strafrechtlich andere Vorwürfe.

PROF. STEFANIE BOCK: Genau, da ist aus rechtlicher Sicht besonders spannend das Verfahren vor dem Oberlandesgericht Frankfurt gegen den Mann, gegen Taha al-J., der nämlich angeklagt ist wegen Völkermordes. Das OLG Frankfurt hat unter anderem auch wegen Völkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verurteilt, da dort nämlich gesagt wurde, er habe tatsächlich in der Absicht gehandelt, die Gruppe der Jesiden als solche zu zerstören.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wie ist es denn bei einer solchen Anklage, wegen des Vorwurfs des Völkermords? Sie hatten beschrieben, dass das subjektive Element des Straftatbestandes enorm wichtig sei. Reicht es aus, wenn ein Täter diese subjektive Überzeugung, diesen Vorsatz erfasst und dann aber, in Anführungsstrichen, nur gegen einzelne Mitglieder der Gruppe vorgeht? Und wenn ja, warum?

PROF. STEFANIE BOCK: Ja, das reicht. Völkermord ist kein Erfolgsdelikt. Das heißt, ich bin nicht erst dann im Völkermord, wenn ich es tatsächlich geschafft habe, das ganze Volk auszurotten, sondern ich gehe gegen einzelne Mitglieder vor. Die einzelnen Taten sind Tötung, Zufügung schweren Leidens, Überführung der Kinder der Gruppe in eine andere Maßnahme zur Geburtenkontrolle, das ist alles sehr vielfältig. Und das mache ich aber in der Absicht, die Gruppe als solche zu zerstören. Als Hintergrundbild ist natürlich der Wannsee-Beschluss zur Endlösung der Judenfrage mit der absoluten Manifestierung dieser Zerstörungsabsicht. Und genau das macht den Straftatbestand aber in modernen Zeiten so wahnsinnig schwierig, weil es heute natürlich keinen Wannsee-Beschluss mehr gibt, sondern da muss man dann genauer gucken. Im Islamischen Staat scheint es vergleichsweise klar zu sein, da da die Zerstörung der ungläubigen Jesiden doch zu einem sehr zentralen Politikpunkt geworden ist. Aber sozusagen jetzt auf Ebene des einzelnen Täters nachzuweisen, dass es hier tatsächlich diese Zerstörungsabsicht gab, ist sicherlich nicht ganz leicht. Und da werden wir auch ganz mit Spannung erwarten, die schriftlichen Urteilsgründe, wo das OLG Frankfurt dann noch etwas näher ausführen wird, wie sich dann diese Überzeugung von der Völkermordabsicht gebildet hat. Seine Frau Jennifer W. Ist auch nicht wegen Völkermordes verurteilt worden.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund, diese Verfahren, diese Entscheidungen des OLG Koblenz, des OLG München, des OLG Frankfurt am Main, ungeachtet der Tatsache, dass in allen Verfahren, nach meinem Verständnis, die Entscheidungsgründe noch nicht vorliegen.

PROF. STEFANIE BOCK: Ich halte sie für ein ganz wichtiges, auch international sichtbares Signal. Es ist immer wahnsinnig unbefriedigend anzufangen mit dem Kampf gegen die Straflosigkeit von Völkerrechtsverbrechen. Also auch das Koblenz Verfahren sieht sich natürlich dem Vorwurf ausgesetzt, zehn Jahre Bürgerkrieg und jetzt sind zwei verurteilt, auch noch welche, die relativ früh aus Syrien weggegangen sind. Das kann natürlich frustrierend wirken. Auf der anderen Seite ist dann immer die Gegenfrage: Was wäre denn die Alternative? Den beiden jetzt zu sagen "Ihr habt es nach Deutschland geschafft. Herzlichen Glückwunsch! Und jetzt könnt ihr euch hier integrieren." Das scheint mir auch nicht die Lösung sein zu können. Das Zeichen, was von solchen Verfahren ausgeht, ist hier einfach das klare Signal, dass es keinen sicheren Hafen für Völkerrechtsverbrecher gibt. Es gibt kein Vertrauen darauf, dass sie für ihre Taten nicht zur Verantwortung gezogen werden. Vielleicht nicht in Damaskus, vielleicht nicht in Den Haag, aber dann vielleicht in Koblenz. Und das ist das Signal, was davon ausgeht, und das halte ich für unglaublich wichtig.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Sie hatten es aber auch schon gesagt, die Verfahren, die wir heute betrachtet haben, sind die absolute Spitze des Eisbergs von furchtbaren Gräueltaten, die Angehörige des Assad-Regimes und Angehörige des IS begangen haben. Ganz zu schweigen von den zahllosen anderen Gruppierungen und Playern in den kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten in den vergangenen zehn, 15 Jahren. Wie geht es jetzt weiter, vor den deutschen Strafgerichten, aber auch vor der internationalen Strafjustiz?

PROF. STEFANIE BOCK: Also in Deutschland geht es ganz konkret, sozusagen nächste Woche schon weiter, nämlich vor dem Oberlandesgericht Frankfurt. Da kommt ein neues Syrien Verfahren gegen einen ehemaligen Militärarzt, der auch schon vor einigen Jahren nach Deutschland gekommen ist und hier in der Zeit auch weiter als Arzt praktiziert hat bis dann der Tatverdacht gegen ihn soweit konkretisiert wurde, dass die Staatsanwaltschaft dieses Verfahren nun eingeleitet hat.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Sehen Sie denn die Staatsanwaltschaften, auch die Generalbundesanwaltschaft, die hier zuständig ist, von den Ressourcen her in der Lage, auch eine deutlich höhere Anzahl von Verfahren zur Anklage zu bringen. Denn nach dieser intensiven Beweiswürdigung und den Zeugenaussagen spricht zumindest einiges dafür, dass es noch eine ganze Menge andere Verfahren gibt, die eigentlich Ermittlerinnen und Ermittlern auf dem Schreibtisch liegen könnten.

PROF. STEFANIE BOCK: Also mittlerweile sind die Abteilungen, die bei der Generalbundesanwaltschaft für völkerstrafrechtliche Verfahren zuständig sind, sehr erweitert worden. Da sind Ressourcen zur Verfügung gestellt worden. Aber klar ist auch, auch die sind endlich. Das Problem, das wir im Völkerstrafrecht immer haben, ist, dass wir nicht in der Lage sein werden, alle Täter zur Verantwortung zu ziehen. Dafür zeichnen sich diese Situation kollektiven Unrechts einfach dadurch aus, dass viel zu viele Teile der Gesellschaft involviert sind. Und wahrscheinlich wäre es auch gar nicht wünschenswert, alle Personen strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, weil dann die Frage bleibt, wen habe ich dann noch, um eine neue Gesellschaft aufzubauen? Das heißt, ich muss auch andere Reaktionsmechanismen finden, außer und neben dem Strafrecht, um diesen gesellschaftlichen Ausgleich hinzubekommen und zu versuchen, auf den Neuanfang zu zielen. Was das andersrum bedeutet ist, man bräuchte bestenfalls eine Strafverfolgungspolitik, die halbwegs klar macht, warum ich aus welchen Gründen welche Leute denn verfolge. Da ist ganz klar das Problem, bei der nationalen Durchsetzung von Völkerstrafrecht ist erst mal das Kriterium, ich nehme die, die ich zufällig bekomme. Also die, die zufälligerweise hier im Asylverfahren erzählen, dass sie in die Begehung von Verbrechen involviert waren. Ob das möglicherweise die Hauptverantwortlichen sind, ist dann eine zweite Frage. Aber das sind die, die ich zumindest erst mal bekommen kann. Da schwingt ein gewisses Maß natürlich an Rechtsungleichheit, vielleicht auch an Willkür mit. Wobei das natürlich nicht in der Entscheidung der Organe selber liegt, sondern die müssen sich einfach den Umständen des Faktischen beugen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund den gegenwärtigen Stand der internationalen Strafjustiz insgesamt? Wie machen das andere Länder? Können Sie das beurteilen und uns einen kleinen Einblick darin geben, ob das, was jetzt in Deutschland passiert ist und auch international Beachtung findet, in anderen Ländern ebenso gehandhabt wird oder auch Nachahmer findet.

PROF. STEFANIE BOCK: Ja, wir haben gerade in den europäischen Ländern durchaus vergleichbare Verfahren, die angestrebt werden. Niederlande, Belgien, die skandinavischen Länder, Schweiz, Österreich, da werden ähnliche Verfahren durchgeführt. In Frankreich gibt es die Überlegung, das Assad-Regime über die Folter-Konvention zur Verantwortung zu ziehen. Also die Idee, da auch auf nationaler Ebene tätig zu werden, die gibt es und ich glaube, das ist auch der ganz entscheidende Durchsetzungsmechanismus. Wir haben jetzt gesehen, den IStGH gibt jetzt ungefähr 20 Jahre. Der Output an Fällen ist nicht sonderlich groß, um es freundlich zu sagen. Das heißt, die IStGH ist als Institution da und ist wichtig insoweit. Aber ich würde mittlerweile sagen, seine Hauptfunktion liegt darin, dass er als Katalysator für diese nationalen Verfahren wirkt und dafür sorgt, dass Völkerstrafrecht auf nationaler Ebene durchgesetzt wird. Und das ist umso wichtiger, dass dann alle Staaten, und auch gerade Deutschland im Angesicht seiner historischen Verantwortung, da ihren Beitrag zu leisten.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Liebe Frau Professorin Bock, haben Sie vielen Dank für dieses beeindruckende Gespräch zu diesem wirklich schweren und wichtigen Thema. Vielen herzlichen Dank.

PROF. STEFANIE BOCK: Ich bedanke mich.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wir hoffen, die Folge hat euch gefallen. Vielen Dank fürs Zuhören. Wenn euch der Podcast Freude bereitet oder ihr Verbesserungsvorschläge habt, hinterlasst uns bitte eine Bewertung auf der Podcast Plattform eures Vertrauens. Wir hören uns in der nächsten Folge spruchreif in zwei Wochen.

Erwähnte Gerichtsentscheidungen

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