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Russlands Überfall auf die Ukraine – mit Prof. Helmut Aust

Jurafuchs Podcast #014 | Russland führt einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg - welche Rolle kann das Recht in Anbetracht dieses epochalen Rechtsbruchs noch spielen?

Zusammenfassung

Heute gibt es keine Rechtsprechungs-Folge. Am 24. Februar 2022 hat Russland die Ukraine überfallen. Es handelt sich um einen unprovozierten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen ein freies und souveränes Land, der durch nichts zu rechtfertigen ist. Die Invasion mit ihren massiven Gewalthandlungen markiert eine Zeitenwende und bringt fürchterliches Leid über das ukrainische Volk. Die rechtliche Einordnung dieses Falles ist vergleichsweise einfach - und deprimierend. Und doch wollen wir schon jetzt der Frage nachspüren: Welche Rolle kann das Recht in Anbetracht dieses epochalen Rechtsbruchs noch spielen?

Dazu sprechen wir mit Professor Helmut Aust, Inhaber der Professur für Öffentliches Recht und die Internationalisierung der Rechtsordnung an der Freien Universität Berlin und Associate Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Helmut Aust zeigt auf, warum der russische Überfall eine offensichtliche Verletzung des völkerrechtlichen Gewaltverbots darstellt und warum die russischen Rechtsbehauptungen zur Rechtfertigung nicht im Entferntesten taugen. Er ordnet die Invasion ein in den historischen Kontext und legt dar, warum die zurückhaltenden Reaktionen der Staatengemeinschaft auf die russische Annexion der Krim und die russische Förderung des Kriegs im Donbass sowie Völkerrechtsverletzungen westlicher Staaten zu einer Erosion des Gewaltverbots beigetragen haben. Und er diskutiert, welche Bedeutung jetzt Verfahren vor internationalen Gerichten zukommt und welche Möglichkeiten der Staatengemeinschaft noch verbleiben, um diesen Konflikt zu befrieden. 

Interview (Transkript)

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Willkommen bei Spruchreif, dem Rechtsprechungs-Podcast von Jurafuchs, in Kooperation mit dem Nomos Verlag. Mein Name ist Wendelin Neubert und zusammen mit meinen Gästen gehe ich dem Kontext und den Hintergründen aktueller Gerichtsentscheidungen auf die Spur.

PROF. HELMUT AUST: Also, dass hier eklatante Völkerrechtsbrüche vorliegen seitens Russland ist evident und der Angriff des 24. Februars ist ja der vorläufig letzte Akt dieses Dramas. Und wenn man sich darauf konzentriert, hat man einen ganz eindeutigen Verstoß gegen das Gewaltverbot aus Artikel zwei Nummer vier der UN-Charta. Aber natürlich kann das Völkerrecht jetzt nicht diesen Konflikt lösen, das muss schon politisch geschehen. Das Völkerrecht ist nur so gut, wie die Staaten es zulassen, dass es ist. Und es muss von den Staaten gelebt werden. Und wir erleben eben eine fundamentale Herausforderung des Völkerrechts durch einen sehr mächtigen Staat. Und damit das Völkerrecht überleben kann und damit auch Frieden wieder einziehen kann, müssen die anderen Staaten angemessen darauf reagieren.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Mein Gast ist Professor Helmut Aust. Er ist Inhaber der Professur für Öffentliches Recht und die Internationalisierung der Rechtsordnung an der Freien Universität Berlin und Associate Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Lieber Helmut, danke, dass du wieder bei Spruchreif zu Gast bist.

PROF. HELMUT AUST: Hallo Wendelin, vielen Dank für die Einladung. Sehr gerne.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wir sprechen über das furchtbare Thema dieser Tage. Russland hat am 24. Februar die Ukraine überfallen. Wir führen dieses Gespräch am Abend des 1. März. Es ist der sechste Tag der russischen Invasion und die Lage in der Ukraine ist weiterhin sehr unübersichtlich. Uns erreichen Bilder beispielloser Zerstörung, einer leidenden Zivilbevölkerung und eines erbitterten Widerstands gegen die russische Aggression. Lieber Helmut, wir wollen uns an einer ersten rechtlichen Einordnung des Krieges in der Ukraine versuchen. Könntest du für uns zum Eingang des Gesprächs bitte einmal skizzieren, wie völkerrechtlich eigentlich dieser Angriff Russlands einzuordnen ist?

PROF. HELMUT AUST: Ja, das kann ich gerne machen. Und das ist eigentlich auch relativ schnell getan, denn es stellen sich hier keine komplizierten Rechtsfragen. Also dass hier eklatante Völkerrechtsbrüche vorliegen seitens Russland, ist evident. Und was mir eigentlich wichtig ist in dem Kontext zu betonen, ist, dass wir es jetzt ja nicht nur mit einer Entwicklung seit dem 24. Februar zu tun haben, sondern dass das schon sehr viel länger zurückreicht. Und das wir also auf das Jahr 2014 schauen müssen die Annexion der Krim, dann den Konflikt im Donbass, die Unterstützung der Aufständischen dort, jetzt kurz vor dem Angriff, die Anerkennung der Volksrepubliken, der sogenannten, durch Russland. All das ist ja Teil eines Build-ups, wenn man so möchte. Und der Angriff des 24. Februars, der vorläufig letzte Akt dieses Dramas. Und wenn man sich darauf konzentriert, hat man einen ganz eindeutigen Verstoß gegen das Gewaltverbot aus Artikel zwei Nummer vier der UN-Charta. Und dann gibt es natürlich russische Rechtsbehauptungen, die darlegen sollen, warum es sich hier nicht um einen völkerrechtswidrigen Akt handelt. Diese Rechtsbehauptungen sind aber wirklich-, man muss es so sagen, grotesk. Es gibt ja viele Fragen im Völkerrecht, wo man ewig lang diskutieren kann, wo man sagen kann, das ist alles so unbestimmt und es ist so unklar und jeder kann das so auslegen, wie er oder sie möchte. Hier würde ich mal behaupten, bis auf bezahlte Agenten des russischen Systems werden sich alle einig sein, dass dieser Angriffskrieg völkerrechtlich nicht zu rechtfertigen ist. Was Russland als Rechtsbehauptung vorgetragen hat, ist zum einen, dass ein bewaffneter Angriff durch die Ukraine gedroht habe, dass man zweitens den Volksrepubliken Donezk und Luhansk zu Hilfe gekommen ist und sie bei der Ausübung ihres Selbstverteidigungsrecht gegen die Ukraine unterstützt. Und drittens, dass man gezwungen gewesen sei, einen Völkermord zu verhindern, der im Osten der Ukraine stattfindet. Und ehrlich gesagt habe ich gar keine Lust, jetzt eine Diskussion einzusteigen, warum diese Argumente jeweils nicht zutreffen, weil ich das Gefühl habe, es ist eigentlich relativ evident, dass die Ukraine Russland nicht angreifen wollte, dass man nicht erst Teile eines Territoriums anerkennen kann, um dann sich darauf zu berufen, dass diese die Unterstützung bei der Verteidigung brauchen und dass es da auch nicht um einen Völkermord geht.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Ja, und trotzdem ist es interessant, dass selbst Russland mit vermeintlichen juristischen Argumenten ins Feld zieht. Wie muss man das verstehen? Ist das eigentlich jetzt eine positive Entwicklung, dass Russland selbst meint, es ist ja noch ans Recht gebunden oder zeigt es eigentlich fast eine Schwäche des Rechts?

PROF. HELMUT AUST: Das ist eine gute Frage. Und es ist letztlich beides. Ich glaube, es entzieht sich so ein bisschen einer klaren Einordnung. Also man sieht A auf der einen Seite tatsächlich, dass auch Russland meint, sich nach völkerrechtlichen Kategorien rechtfertigen zu müssen. Das ist im Grunde genommen eine gute Nachricht. Das erinnert Völkerrechtler dann immer an das Nicaragua Urteil, wo der Internationale Gerichtshof gesagt hat, dass auch Verstöße gegen eine Norm sie letztlich stärken können, wenn man sich auf akzeptierte Rechtfertigungsgründe beruft. Also nach diesem Narrativ stärkt der russische Verstoß das Gewaltverbot, weil man sich auf die anerkannten Ausnahmen irgendwie beruft. Aber B, auf der anderen Seite ist das natürlich auch sehr unbefriedigend. Wir haben hier eine offenkundig zynische Argumentation, die das Völkerrecht wirklich verdreht und die auch insofern finde ich noch einmal einen qualitativen Unterschied herstellt zu vielen Situationen, in denen der Westen in den letzten 20, 30 Jahren gegen Völkerrecht verstoßen hat. Da gab es auch viel, was schiefgelaufen ist. Aber wenn man-, zumindest wenn man einmal vom Irakkrieg 2003 vielleicht absieht, in den allermeisten anderen Fällen, die auch Putin anführt, kann man doch mehr Graustufen ausmachen. Man kann länger diskutieren: Wo war die Linie zur Völkerrechtswidrigkeit? Was war noch gerechtfertigt? Und das ist hier schon ein beispielloser Völkerrechtsbruch für die letzten 30 Jahre. Und das letzte Mal, dass wir so etwas in dieser Form erlebt haben, würde ich sagen, ist der irakische Angriff auf Kuwait 1990 gewesen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wir haben eben eine umfassende Invasion einer Weltmacht mit konventionellen Waffen von der Luft und vom Boden gegenüber einem anderen selbständigen, souveränen Staat. Das ist so eine kategoriale Überraschung für alle Beobachterinnen und Beobachter unserer Zeit, dass es viele erst einmal schwerfiel, das überhaupt zu begreifen, dass es solches passieren könnte. Und doch ist das ja der Paradefall einer Verletzung des Gewaltverbots, dieser Kernnorm des Völkerrechts.

PROF. HELMUT AUST: Also man diskutiert ja oft über das Gewaltverbot. Und ist es eigentlich tot, oder was hält es am Leben? Und diese Monumentalität, dieses Verstoßes zeigt vielleicht implizit auch noch einmal, dass das Gewaltverbot sonst auch gar nicht so ganz schlecht funktioniert, weil wir eben diese Form des massiven zwischenstaatlichen Krieges seit 1945 eben doch nur ganz selten erlebt haben.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Welche Reaktionsmöglichkeiten hat denn jetzt der Staat, der denn davon betroffen ist, aus rechtlicher Sicht? Die Ukraine.

PROF. HELMUT AUST: Die Ukraine hat das Recht auf Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta und das kann sie, da ein bewaffneter Angriff auf ihr Territorium vorlag, kann sie das individuell und kollektiv ausüben. Und diese kollektive Dimension bedeutet letztlich, dass völkerrechtlich Drittstaaten auch die Ukraine bei der Ausübung des Selbstverteidigungsrecht unterstützen können. Das tun sie jetzt ja auch in unterschiedlicher Form, mit Waffenlieferungen zum Beispiel. Aber theoretisch ginge es auch, dass Staaten die Ukraine militärisch durch Eingreifen ihrer Truppen unterstützen. Das ist aber natürlich etwas, was noch mal den Konflikt auf ein ganz anderes Eskalations-Level heben würde, weswegen das ja auch die NATO-Staaten von Anfang an ausgeschlossen haben, dass sie aufseiten der Ukraine tatsächlich in diesen Konflikt militärisch mit ihren eigenen Truppen eingreifen werden.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Dieser kategorische Bruch mit einer absoluten Grundnorm des Völkerrechts ist beispiellos, wird auch verglichen mit dem deutschen Überfall auf Polen 1939. Und trotzdem hattest du gerade beschrieben, dass es in der jüngeren Vergangenheit eine Reihe von Entwicklungen gab, an denen Russland beteiligt war, die bereits Verletzungen des Territoriums der Ukraine beinhalteten, auch völkerrechtlich eindeutig zu bewerten waren. Vielleicht kannst du die noch einmal in Erinnerung rufen, um uns ein Gefühl zu geben, was eigentlich die Vorgeschichte-, die rechtliche Vorgeschichte der aktuellen Invasion ist.

PROF. HELMUT AUST: Das ging eigentlich 2014 los, im Verhältnis Russland Ukraine, mit der Annexion der Krim. Und das war ja ein Prozess, der damals auch alle überrascht hat. Also das ging mehr oder weniger handstreichartig. Es ging ja auch kurz nach den Olympischen Winterspielen in Sotschi los. Eine weitere Parallele, dass wir so ein Handeln kurz nach Olympischen Spielen haben. Und da passierten dann ja ganz merkwürdige Dinge erst einmal. Das waren diese grünen Männchen, die dann auftauchten. Von Putin erst dann ja auch als russische Urlauber, also Soldaten, die im Urlaub befindlich waren, dargestellt. Also es hat da ein bisschen gebraucht, bis später konzediert wurde, dass das natürlich russische Soldaten waren, dass das so eine Undercover Operation war. Aber es führte dann ja dazu, dass ein Referendum auf der Krim durchgeführt wurde über ein über die Unabhängigkeit der Krim. Dieses Referendum eben durchgeführt wurde unter starker Beteiligung auch der russischen Kräfte auf der Krim. Und nachdem die Krim sich dann für unabhängig erklärt hat, dass es zum Beitritt zur Russländischen Föderation gekommen ist und kurze Zeit danach dann eben noch dieser Konflikt im Osten der Ukraine ausgebrochen ist, wo dann separatistische Kräfte in einem Konflikt mit der ukrainischen Zentralregierung stehen und dabei auch am Anfang eher klandestin, aber letztlich jetzt auch für alle klar von der russischen Seite unterstützt werden. Insofern ist Russland also seitdem schon in der Ukraine aktiv. Und wenn man noch weiter ausgreifen möchte, hat man die politische Vorgeschichte mit dem Euromaidan, den Protesten 2014 gegen eine Nicht-Ratifizierung eines Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der EU und dann den Protesten, dem Regierungswechsel. Und daran sieht man auch, dass die Wurzeln des Konfliktes eben in einer damals sich schon abzeichnenden Annäherung der Ukraine an die Europäische Union lag, was dann eben Gegenreaktionen sowohl innerhalb der Ukraine als auch in Russland ausgelöst hat. Und das vielleicht noch einmal zum Hintergrund der Ereignisse damals. 

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Und damals gab es auch eine internationale Reaktion. Eine Reaktion der Staatengemeinschaft auf diese eklatanten Völkerrechtsbrüche. Und trotzdem war Russland bis vor einer guten Woche ein selbstverständlich anerkanntes Mitglied der Staatengemeinschaft. Mit dem wir Handel getrieben haben, mit dem die Staatengemeinschaft engen Austausch betrieben haben, Diplomatie geführt hat. Warum hat es damals, nach diesen Verletzungen des Völkerrechts nicht schon eine starke Reaktion gegeben? Also man muss sich ja vor Augen führen. Russland hat einen Teil eines Territoriums eines fremden Staates, Ukraine, einfach besetzt, annektiert und sich einverleibt. Wenn man nur die Krim betrachtet.

PROF. HELMUT AUST: Die Reaktion war glaube ich anders, weil das Vorgehen nicht diese Massivität hatte, die wir jetzt haben, diese Brutalität, sondern es war letztlich ein erst einmal ohne Blutvergießen sehr geschickt durchgeführtes Vorgehen, welches zudem ja auch auf eine Propaganda Operation setzte, auf die damals glaube ich auch im Westen noch viele hereingefallen sind. Die Krim sei ja eigentlich immer ausländisch gewesen und gehöre zu Russland und das sei so eine Art Wiedervereinigung. Das hat ja auch Putin gesagt. Gerade in Deutschland solle man doch darauf setzen, dass man-, man soll da Verständnis dafür haben, dass man auch eine Wiedervereinigung eines getrennten Volkes herbeiführen wolle. Und da gab es ja gerade in Deutschland auch sehr viele, die sehr bereitwillig auf diese Narrative eingegangen sind. Es fehlte an der Gewaltanwendung und dazu war der Prozess eben auch so gut geschickt getarnt, dass es glaube ich, ein bisschen gedauert hat, bis die Welt verstanden hat, was da passiert ist. Und das haben wir ja auch jetzt gesehen und unter umgekehrten Vorzeichen, dass auch bis vor ein paar Wochen, das war zumindest mein Eindruck, auch so die Nachrichtendienste davon ausgingen, dass es jetzt nicht zu einem so massiven Überfall kommen würde, sondern dass es auch so False Flag Operations geben würde und gezielte Operationen hier und da. Dass also Taktiken, die man aus dem damaligen Kontext kannte, jetzt auch diesmal wieder zur Anwendung kommen würden. Und ich glaube, darauf wäre man jetzt irgendwie eingestellt gewesen und vielleicht hätte man das sogar im Westen achselzuckend so ein bisschen zur Kenntnis genommen. So ist er halt, der Putin. Aber jetzt hat er insofern alle wieder überrascht, indem er diese Invasion vorgenommen hat, die dann natürlich auch durch das konzertierte Vorgehen, durch die Waffengewalt, durch die Bilder, die das präsentiert, natürlich doch eine andere Reaktion auslöst, als wenn man sehr geschickt einen kleinen Teil des Territoriums eines anderen Staates herauslöst. Was völkerrechtlich gesehen auch ein eklatanter Bruch der ukrainischen Souveränität und territorialen Integrität gewesen ist. Was aber damals in der internationalen Gemeinschaft auch nicht so einhellig verurteilt worden ist, wie das jetzt hoffentlich auch nachhaltig heute passiert hinsichtlich des Angriffs. Also es gab damals eine Resolution der UN-Generalversammlung, wo sich so ungefähr 100 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen überhaupt nur dazu durchringen konnten, diesen Verstoß oder diesen Bruch der ukrainischen Souveränität und territorialen Integrität klar als solches zu benennen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Das ist interessant, was du beschreibst, weil es vor Augen führt, dass diese eklatanten Verletzungen des Völkerrechts, wie du sagtest, bei der Staatengemeinschaft eher ein Achselzucken hervorgerufen haben. Welche Rolle spielt es denn, wenn ein Staat absolute Grundnormen des Völkerrechts missachtet, quasi handstreichartig und die Staatengemeinschaft nicht oder allenfalls zurückhaltend reagiert. Erodiert, dass nicht die Norm und ihre Wirkung in den zwischenstaatlichen Beziehungen?

PROF. HELMUT AUST: Ich denke schon. Also man kann das natürlich auf verschiedenen Ebenen beantworten. Man kann, wenn man das Ganze streng dogmatisch betrachtet und einfach sich nach einer ganz klassischen Analyse der Völkerrechtsquellen und ihrer Veränderung richtet, kann man sagen: Rechtsbruch ist Rechtsbruch. Und dann ändert sich nichts an der Rechtslage. Und wenn man dann sich anschaut, wie verändert sich Gewohnheitsrecht oder wie wirkt sich nachfolgende Praxis auf die Auslegung von Verträgen aus? Artikel 31 3 B der Wiener Vertragsrecht Konvention. Dann sind das eigentlich recht hohe Hürden, bevor sich das Recht wirklich ändert. Man braucht sowohl im Gewohnheitsrecht als auch bei dieser nachfolgenden Praxis, eben doch einen zwar nicht einstimmigen Konsens aller Staaten, aber eben doch eine sehr eindeutige und überwiegende Praxis, der dann auch nicht widersprochen wird. Insofern könnte man sagen, naja, das ist bedauerlich, das sind Rechtsverstöße, da ändert sich nichts. Aber wenn man so ein bisschen den Blick über diese rein positivistische, dogmatische Sichtweise hinaus weitet, dann denke ich, dass es schon sehr naheliegt, dass natürlich die Autorität des Völkerrechts als einer dezentralen Rechtsordnung, der es gerade an einer eben zentralen und immer zuständigen Durchsetzungsinstanz fehlt, dann leidet, wenn auf Rechtsbrüche nicht adäquat reagiert wird. Das sendet eben das Signal aus, dass man das Recht nicht so ernst nehmen muss. Und das ist auch wahrscheinlich einer der Gründe, warum der Westen schon auch eine Mitverantwortung für die aktuelle Situation trägt, dass man nämlich eben auch Völkerrechtsverstöße des Westens nicht so eindeutig reagiert hat. Diese Völkerrechtsverstöße waren nicht in der gleichen Liga, das will ich damit überhaupt nicht sagen. Und Sie können auch überhaupt nicht Russlands Vorgehen jetzt rechtfertigen, wie Putin das insinuiert. Die Ukraine kann nichts für die Völkerrechtsverstöße des Westens als Drittstaat. Das ist also vollkommen abwegig, da irgendwie ein Argument daraus zu bauen, dass deswegen jetzt Russland ein Recht auf diesen Krieg hätte. Aber es erleichtert natürlich Russland diskursiv sein Verhalten, wenn es sagen kann: Kosovo, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien. Wir sehen doch, dass der Westen das Völkerrecht nicht ernst nimmt und nur wir sollen jetzt hier an den Pranger gestellt werden. Und das ist natürlich für eine Rechtsordnung, die eben letztlich ja darauf basiert, dass sie im Kern von einem recht kleinen Club von 192, 193 Mitgliedern getragen wird ein großes Problem. Jetzt in unserem aktuellen Fall wiederum glaube ich, dass-, also da gibt es sicher in vielen Staaten oder in einigen Staaten auch solche Prozesse, dass da man sehr genau kalibriert, wie man sich dazu äußert. Aber wenn man sich auch so die Stellungnahme aus der Wissenschaft anschaut, ist es doch einfach sehr eindeutig, was es ist. Es ist einfach ein ganz eklatanter Verstoß gegen eine Norm des zwingenden Völkerrechts.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Ja. Der Begriff des Angriffskriegs wird hier häufig genannt, das ist ja ein Begriff, den wir in unserer Verfassung haben, aber auch ein Begriff, der in Form der Aggression auch völkerrechtlich unterfüttert ist als ein völkerrechtliches Verbrechen. Das zeigt ja auch noch einmal die besondere Qualität eines solchen militärischen Überfalls auf ein anderes Land, der unprovoziert ist und der mit schwersten Verwüstungen, aber auch einer bislang noch nicht abschätzbaren Zahl an zivilen Opfern einhergeht. Hat ein solcher Epochenbruch eigentlich eine bestimmte Rechtsfolge, also eine Art Verpflichtung einzugreifen, dass irgendein Staat sagen müsste, er müsse jetzt zwingend darauf reagieren, ob er von der Ukraine gefragt ist oder nicht?

PROF. HELMUT AUST: Das sind schillernde Begriffe, die auch in unterschiedlichen Kontexten eine Rolle spielen. Man kann erst einmal, wenn man auf die UN-Charta schaut, dann könnte man sagen, das ist also die Schwelle dafür, dass der Sicherheitsrat Maßnahmen nach Kapitel sieben ergreifen kann, ein Bruch des Friedens, einer Angriffshandlung. Das ist natürlich theoretischer Natur. Wenn man auf das Vetorecht Russlands schaut, dann kann man auf das allgemeine Völkerrecht schauen, auf das Recht der Staatenverantwortlichkeit, wo es bestimmte Reaktionspflichten für Drittstaaten gibt, die sich auf schwerwiegende Verstöße von zwingenden Normen des allgemeinen Völkerrechts beziehen. Das ist die etwas sperrige Formulierung in den Artikeln 40 und 41 dieser ILC Artikel zur Staatenverantwortlichkeit von 2001. Und da ist die Kernbotschaft eigentlich, dass es drei Verpflichtungen gibt, die auch solche schwerwiegenden Verstöße aufsetzen. Das ist eine Kooperationspflicht, um sie zu beenden. Es ist eine noch einmal gesteigerte Pflicht der Nicht-Unterstützung, die über die allgemeine Pflicht, keine Beihilfe für völkerrechtswidrige Verhalten zu liefern, hinausgehen. Und es ist eine Nichtanerkennungspflicht. Das ist auch was, was jetzt die UN-Generalversammlung eigentlich sich auf ihre Fahne schreiben sollte, dass sie nämlich als Reaktion auf diesen Bruch des Völkerrechts, auf diesen Angriffskrieg bestimmte Maßnahmen zwar nicht beschließt und zwangsweise vorgeben kann, wie der Sicherheitsrat das kann, aber sagen kann: Wir empfehlen den Mitgliedstaaten, solche Maßnahmen zu ergreifen. Und die dritte Ebene, ich glaube, das war auch noch etwas, worauf deine Frage vielleicht ein bisschen abzielte, ist natürlich die des Völkerstrafrechts. Wo das Führen eines Angriffskriegs ja seit dem Internationalen Militärtribunal Nürnberg so als Teil der internationalen Kernverbrechen angesehen wird. Das ist natürlich auch hier in unserem Kontext eine mögliche Konsequenz, wobei die Durchsetzung von individueller Verantwortlichkeit für einen Angriffskrieg ja sehr, sehr schwierig ist.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Die Welt scheint weitgehend vereint in ihrer Verurteilung Russlands. Die USA, die EU, viele andere Staaten haben weitreichende Sanktionen erlassen, die die russische Wirtschaft offenbar jetzt schon schwer treffen. Aber das ist jetzt nicht erkennbar, dass das Putins Angriff beenden würde, im Gegenteil. Was kann denn die internationale Staatengemeinschaft jetzt in einem solchen Fall eigentlich noch unternehmen, wenn wie hier der UN-Sicherheitsrat blockiert ist, weil Russland als ständiges Mitglied mit einem Veto jede Maßnahme und Sicherheitsrat blockieren kann? Was ist eigentlich noch möglich?

PROF. HELMUT AUST: Ja, das ist eine gute Frage. Also ich habe da leider auch keine-, ... #00:22:40# auch nicht, wie das auf Englisch mal dann so heißt The Magic Bullet. Was irgendwie diese Frage lösen würde, ja, also wenn es die geben würde, dann hätte sie auch glaube ich jemand anderes schon in die Diskussion eingeführt. Ich glaube, dass die Sanktionen, die beschlossen worden sind, schon wichtig sind. Sie werden nicht kurzfristig Putin von seinem Vorgehen abbringen. Aber sie sind eben ein Zeichen, dass die internationale Gemeinschaft diesen Völkerrechtsbruch ernst nimmt und dass sie auch, und das sieht man, glaube ich, diesmal besonders deutlich, bereit ist, auch für sich selbst negative Konsequenzen einzugehen. Das ist, glaube ich, ein besonders wichtiges Signal, dass man nicht irgendwelche Sanktionen beschließt, die nur nach außen pro forma gut aussehen und die dann auch nichts bewirken, sondern dass es sich hier um Sanktionen handelt, die ja auch unsere Wirtschaftsordnung in Deutschland in den anderen westlichen Staaten auch schwerwiegend beeinträchtigen werden. Und das ist ein Zeichen, dass man es ernst meint. Das muss man jetzt auch durchhalten und dann ist das auch eine, glaube ich, mittel bis langfristig gesehen wichtige Investition in die Völkerrechtsordnung, weil sie dann eben auch, und das führt zurück zu deiner Erosionsfrage, geeignet ist, die Autorität des Völkerrechts zu stabilisieren. Weil sie dann eben auch für die Zukunft für andere Fälle noch mal unterstreicht, wir sind bereit, auf solche Formen von Völkerrechtsverstößen so zu reagieren, dass es allen wehtut, auch uns selbst, aber vor allem dir. Und es wäre auch vollkommen fatal, jetzt zu sagen, wir machen diese Sanktionen nicht, weil Putin das sowieso eingepreist hat. Dann würde man ihn ja gewissermaßen jetzt noch belohnen. Das ist ja auch so ein Narrativ, das wird ihn nicht davon abbringen. Er hat das längst berechnet, dass das und das passieren wird. Dann würde ich sagen, dann testen wir das auch, ob er das dann wirklich durchhält. Und dazu kommt dann, dass diese Sanktionen vielleicht auch noch einmal den Effekt haben, den ja anscheinend in Russland vorhandenen Widerstand, die Proteste auch noch einmal zu stärken. Ob das passiert, weiß niemand. Kann natürlich auch schiefgehen. Aber eine bessere Idee habe ich jetzt auch nicht.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Also es ist auf jeden Fall sehr zu begrüßen, dass ein Großteil der Staatengemeinschaft sich auf sehr schwerwiegende Sanktionen als Reaktion hat einigen können. Das sah ja fast noch bis Samstag nicht so aus. Da gab es die Diskussion doch noch, SWIFT irgendwie weiterlaufen zu lassen. Zum Glück hat sich selbst die Bundesregierung dann überzeugen lassen, unter dem Druck, dem öffentlichen Druck gebeugt, zu reagieren. Ich meine, man muss sich das immer noch einmal vor Augen führen. Es handelt sich um einen Überfall eines Landes auf ein anderes mit schwerster Waffengewalt. Was will man denn sonst noch machen? Aber natürlich ist-, Sanktionen werden langfristig wirken und wirken ja offenbar auch jetzt schon. Und trotzdem bleibt so die Ohnmacht und das Gefühl der Hilflosigkeit nämlich bei ganz vielen Menschen zurück. Sicher nicht nur, die wir darüber uns hier in der Wärme unseres Wohnzimmers darüber unterhalten können, sondern vor allen Dingen den Menschen, die in Kiew und in Charkiw und wo auch immer sitzen und den Bombenangriffen ausgesetzt sind. Also ich wünschte mir so ein bisschen, dass die Kreativität in der Diskussion noch gesteigert werden würde. Ich habe immer in meiner Erinnerung diese Reaktion von-, da ... #00:26:16# in den 1950er Jahren auf die Suezkrise zu sagen: Wir stellen jetzt einfach mal eine UN Emergency Force zwischen die kriegsführenden Parteien und dann ist gut. Damals wurde ja die Peacekeeping Mission quasi geboren. Ordne es vielleicht für uns ein: Warum ist das keine Option hier? Warum wird es jedenfalls nicht als ernst zu nehmende Option diskutiert?

PROF. HELMUT AUST: Ja, das ist eine gute Frage. Also auf die ich auch letztlich keine Antwort habe. Vielleicht fehlt es der Welt da an politischer Imagination. Vielleicht fehlt es auch an Staaten, die jetzt bereit sein würden, in diesen Konflikt Peacekeeping Truppen zu entsenden. Aber du hast schon recht, dass es auch in der Diskussion bisher keine große Rolle spielt. Ich habe zumindest auch jetzt das bisher nicht als Diskussionspunkt irgendwo mit aufgeschnappt. Also das ist etwas, was gerade nicht angedacht wird. Und vielleicht liegt das daran, dass ein ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates in seiner eigenen Nachbarschaft so vorgeht. Dass das noch einmal einen Unterschied macht zu der Situation in der Suezkrise. Wobei da ja natürlich auch ständige Mitglieder des Sicherheitsrates involviert waren, aber die Konstellation war dann vielleicht doch einfach schon eine andere.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Ja, die UN-Generalversammlung hat jetzt aber sich zu einer Sondersitzung einer Emergency Special Session zusammengefunden. Etwas, was bislang auch erst ganz selten passiert ist. Das ist ja auch ein wichtiges Zeichen. Was ist davon zu erwarten? Was kann hier passieren?

PROF. HELMUT AUST: Ja, das ist. Ich glaube, dass die Betonung wichtiges Zeichen ist wichtig, denn von der ganzen Architektur der Vereinten Nationen ist die Generalversammlung ja nicht das Gremium, was schlagkräftige Beschlüsse fassen kann. Und jetzt greift man auf diesen sogenannten Uniting for Peace Mechanismus zurück, der noch auf die Korea-Krise zurückgeht und damals eben eine Blockade des Sicherheitsrates 1950 überwinden helfen sollte. Und es wird dann diskutiert, was die Generalversammlung im Rahmen einer solchen Sondersitzung tatsächlich beschließen kann. Ich glaube, es kommt letztlich jetzt gar nicht so sehr darauf an, ob die Generalversammlung jetzt hier unter Uniting for Peace handelt oder ob sie sonst einfach zusammentritt. Ich glaube, es wäre wichtig, dass die Generalversammlung ein klares Signal aussendet, dass dieser russische Überfall verurteilt wird und dass seine Konsequenzen nicht anerkannt werden. Also das ist das, worauf es ,glaube ich jetzt ankommt.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Bis dahin vergeht Zeit. Wir können nur aus der Ferne zuschauen, wie sich der schwere bewaffnete Konflikt weiter vor Ort entwickelt. Diese faktische Situation, aber auch die prekäre Normativität des Völkerrechts, die lassen schon ziemlich mutlos zurück. Aber die Durchsetzung völkerrechtlicher Normen, die kann auch vor internationalen Gerichten eingeklagt werden. Und genau das hat die Ukraine ja jetzt offenbar gemacht. Um was für ein Verfahren handelt es sich da?

PROF. HELMUT AUST: Ja, du spielst wahrscheinlich an auf das Verfahren, was die Ukraine jetzt vor dem Internationalen Gerichtshof anhängig gemacht hat. Ein Verfahren auf Grundlage der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen. Und dazu muss man zunächst einmal insofern ein Stück weit ausholen, dass die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs ja keine allumfassende ist, sondern man immer eine dem Konsensprinzip entsprechende Grundlage für die Ausübung der Gerichtsbarkeit finden kann. Und es gibt ja keine Möglichkeit, dass die Ukraine Russland einfach für sämtliche denkbaren Völkerrechts Verstöße vor den IGH bringen kann, sondern entweder müssten sich die beiden Staaten einigen, das zu tun, was unwahrscheinlich ist, oder die Ukraine findet eine Grundlage in einem völkerrechtlichen Vertrag, einer sogenannten kompromissarischen Klausel, wo vorgesehen ist, dass der IGH über die Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages entscheidet. Und das ist jetzt bei Artikel neun der Völkermord Konvention der Fall. Und was die Ukraine jetzt versucht ist sehr, sehr raffiniert. Es ist nicht so, wie das zum Beispiel die frühere Bundesrepublik Jugoslawien und Serbien Montenegro in den Neunzigern versucht haben, als sie anlässlich des Kosovokrieges den westlichen Staaten vorgeworfen haben: Ihr begeht hier einen Völkermord. Sondern die Ukraine dreht das gewissermaßen um und sagt Russland beruft sich in seiner Rechtsbehauptung für die Intervention ja darauf, dass es in der Ostukraine einen Völkermord gebe. Das ist eine falsche Anschuldigung. Und wir verklagen euch jetzt mit dem Ziel, dass der Gerichtshof feststellt, dass es in der Ostukraine keinen Völkermord gibt. Und das ist sehr gewitzt. Es ist nicht gesagt, dass das, wenn man auf das Hauptsacheverfahren schaut, aufgeht. Also ob der Gerichtshof sich dafür zuständig erklärt, ist mit vielen Unsicherheiten behaftet. Die Ukraine muss also jetzt zum Beispiel darlegen, dass Russland tatsächlich der Ukraine einen Völkermord im Sinne der Völkermordkonvention vorgeworfen hat. Russland könnte argumentieren, wir haben nur in einem allgemeinen politischen Sinn von Völkermord gesprochen, oder wir haben auf das Gewohnheitsrecht Bezug genommen, aber nicht auf die Völkermordkonvention. Das sind dann sehr technische Fragen. Was jetzt aber das Vorgehen der Ukraine so gewitzt macht ist, dass sie vorläufige Maßnahmen beantragen, Provisional Measures. Über die wird jetzt auch nächste Woche verhandelt, am 7. und 8. März. Das kam jetzt gerade eine halbe Stunde vor Auftakt unserer Aufzeichnung als Nachricht rein, dass der IGH da Anhörungen terminiert hat. Und für diese Provisional Measures ist es so, dass der Internationale Gerichtshof dort eine geringere Kontrolldichte oder Prüfungstiefe anlegt, was seine Zuständigkeit anbelangt. Er muss noch nicht vollumfänglich davon überzeugt sein, dass er in der Hauptsache zuständig ist, sondern es muss prima facie möglich erscheinen, dass eine Zuständigkeit besteht. Und ich glaube, das ist das, worauf die Ukraine spekuliert, um einfach einen Sieg in diesem Verfahren zu erzielen und das ist Teil einer Strategie, die auch schon länger zurückreicht. Also auch seit 2014 hat die Ukraine vielfältige Gerichtsverfahren gegen Russland angestrengt und also jede sich bietende internationale Streitbeilegungsinstanz mit Verfahren zum Russland-Ukraine-Konflikt befasst. Den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Es gab auch schon vorhergehende Verfahren vor dem IGH, die auf die Konvention zur Eliminierung von Rassendiskriminierung Bezug nehmen und auf einer Konvention zur Verhinderung von Terrorismusfinanzierung. Es gibt vor seegerichtlichen Tribunalen Verfahren, es gibt Investitionsschutzverfahren. Also das war eine Strategie, möglichst alle denkbaren internationalen Streitbeilegungsmechanismen mit diesem Konflikt zu befassen und ihn dadurch zu internationalisieren.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Die legitimierende Wirkung einer solchen Entscheidung wäre natürlich enorm, das ist klar. Aber was wäre denn die Rechtsfolge? Was wären denn die Provisional Measures, die der Internationale Gerichtshof in einem solchen Verfahren erlassen könnte?

PROF. HELMUT AUST: Das ist eine gute Frage. Und es ist auch für den Gerichtshof natürlich eine heikle Situation, denn der Gerichtshof wird sich sicher auch überlegen: Was es für seine Autorität bedeutet, wenn seine Provisional Measures einfach missachtet werden. Aber bevor man überhaupt zu diesen Fragen kommt, muss man jetzt natürlich sehen, dass auch die Provisional Measures sich schon im Rahmen dessen bewegen müssen, etwas was die Zuständigkeitsgrundlage nach der Völkermordkonvention überhaupt hergibt. Also wenn die Ukraine jetzt geltend macht, sie möchte festgestellt wissen, dass Russland letztlich hier eine falsche Rechtsbehauptung aufstellt, dann können diese Provisional Measures nur den Zweck haben, dass sie die Durchführung des Hauptverfahrens sichern. Und dann ist die Frage was fällt unter diesen Sicherungszweck einer solchen Anordnung? Und das begrenzt auch das, was der Gerichtshof ja hier anordnen kann. Also ich glaube, es ginge letztlich um einen-, also moralischen Sieg ist falsch, weil es wäre ja ein Sieg des Rechts, aber jedenfalls etwas, was natürlich Symbolkraft hätte und was die Position der Ukraine international noch weiter stärken würde. Man kann sich jetzt sicher nicht erhoffen, dass mit einer Anordnung des Internationalen Gerichtshofs auf einmal der Frieden eintritt. Das würde auch jetzt zu große Erwartungen an dieses Gericht stellen. Wie auch insgesamt finde ich, wenn man sich jetzt mal fragt, was kann das Völkerrecht beitragen? Dann ist meine Antwort: Das Völkerrecht kann ohnehin nicht als solches etwas beitragen. Es ist eine Sprache, in der bestimmte Konflikte ausgetragen werden. Dafür steht es zur Verfügung und es strukturiert die Durchführung von bestimmten Konflikten und Reaktionen auf Konflikte. Aber natürlich kann das Völkerrecht jetzt nicht diesen Konflikt lösen. Das muss schon politisch geschehen, optimalerweise in den Formen des Völkerrechts und innerhalb der Grenzen, die das Völkerrecht setzt. Aber man darf das Völkerrecht in seinen Institutionen jetzt auch nicht mit Hoffnungen überfrachten, die es dann nicht einhalten kann.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Auch da gibt es natürlich eine gegenteilige Perspektive, die diesem Wunsch entspricht, eine Völkerrechtsverletzungen doch irgendwie auch mit Konsequenzen zu versehen. Das ist das Völkerstrafrecht. Das hattest du kurz schon angesprochen und das Völkerstrafrecht knüpft an, an die schlimmsten Verletzungen von Völkerrecht und sieht eine individuelle Verantwortung von einzelnen, handelnden Personen vor. Für bestimmte Völkerstraftaten, Kriegsverbrechen, Verbrechen (?gegen) die Menschlichkeit, Genozid und eben das Verbrechen des Angriffskrieges. Dafür sind die Staaten der Staatengemeinschaft zuständig, sie durchzuführen und der Internationale Strafgerichtshof. Es ist sehr fernliegend, dass Putin eines Tages vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt und verurteilt werden würde. Aber hol uns bitte einmal mit: Was steht dahinter? Was ist die Perspektive, die wir uns bei dieser völkerstrafrechtlichen Betrachtung, bei der Rechenschaft, die jemand ablegen soll, für Völkerrechtsverbrechen vorstellen müssen?

PROF. HELMUT AUST: Also dahinter steht eben die Vorstellung, dass Verbrechen, wie das diese berühmte Formulierung aus den Nürnberger Prozessen ist, eben nicht von abstrakten Entitäten, sondern von Menschen begangen werden. Und dass man die diese Menschen auch für ihre Taten zur Verantwortung ziehen möchte. Das ist das hehre Ideal des Völkerstrafrechts. Du hast vollkommen zurecht gesagt, dass es jetzt nicht das naheliegendste Instrument, über das wir uns zurzeit Gedanken machen müssen. Und ich glaube auch, dass es auch nur begrenzt sinnvoll ist, in der aktuellen Situation jetzt zu sehr nach dem Völkerstrafrecht zu rufen. Vor dem Hintergrund der konkreten Konfliktsituation und der Wahrscheinlichkeiten, dass es da zu möglichen Verfahren kommen kann, und der potenziell eskalierenden Wirkung, die die Aussicht auf so etwas auch für Mitglieder der russischen Führung jetzt haben könnte, glaube ich nicht, dass das das vordringlichste Thema zurzeit ist. Das mag sich später einmal stellen, wenn dieser Konflikt so ausgeht, wie sich das die meisten wünschen, ja. Dass also die Ukraine diesen Konflikt übersteht als souveräner Staat und dass sich vielleicht auch in Russland Dinge geändert haben. Dann mag man dazu kommen, dass man über diese völkerstrafrechtlichen Fragen nachdenkt. Es kann natürlich auch durchaus, das sehen wir ja auch im Syrienkonflikt, Ausübung von Strafgerichtsbarkeit über internationale Verbrechen durch nationale Gerichte geben. Das haben wir ja in Deutschland (?in den letzten) Verfahren gesehen. Das ist sicher jetzt auch nichts für die Putins und Lawrows, sondern vielleicht für Personen, die sich da konkret vor Ort Kriegsverbrechen schuldig machen und derer man dann später vielleicht einmal handhabbar wird. Aber ich glaube, das Völkerstrafrecht ist jetzt zum jetzigen Moment des Konflikts nicht die wichtigste Arena.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Wenn du aus deiner völkerrechtlichen Perspektive das zuspitzen müsstest. Was meinst du, wäre der stärkste Hebel, den die Staatengemeinschaft in Bezug auf die Einhaltung der völkerrechtlichen Regeln aktuell in Bewegung setzen könnte?

PROF. HELMUT AUST: Ich fürchte, dass mir da jetzt nicht irgendwie so die eine grandiose Idee einfällt. Ich glaube, dass die Reaktionen, die man jetzt sieht, die von ganz vielen Staaten beschlossenen Sanktionen, dass das wirksam sein kann, wenn es tatsächlich umgesetzt wird und wenn es durchgehalten wird. Und das ist letztlich das, was dann schon einen Veränderungsdruck hervorrufen kann. Wie ich eben schon sagte, man sollte sich jetzt nicht vom Völkerrecht erwarten, dass es diesen Konflikt beilegen kann, dass das kann das Völkerrecht nicht. Das Völkerrecht ist nur so gut wie die Staaten es zulassen, dass es ist und es muss von den Staaten gelebt werden. Und wir erleben eben eine fundamentale Herausforderung des Völkerrechts durch einen sehr mächtigen Staat. Und damit das Völkerrecht überleben kann und damit auch Frieden wieder einziehen kann, müssen die anderen Staaten angemessen darauf reagieren. Ich habe das Gefühl, das tun sie gerade, auch wenn es aus einer ukrainischen Perspektive vielleicht nicht genug ist, was getan wird. Aber ich glaube, viel mehr, als man jetzt zurzeit tut, kann man jetzt auch momentan nicht machen, ohne zumindest das Risiko einer signifikanten weiteren Eskalation einzugehen. Und ob das dann im Interesse der Menschen der Ukraine und auch der Menschheit insgesamt ist, das wage ich doch zu bezweifeln.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Ja. Es bleibt vielleicht zu hoffen, dass die Staatengemeinschaft diesen historischen Wendepunkt nicht vergisst. Falls sich in der näheren Zukunft in einer anderen Situation ein ähnlicher Konflikt auftut, um dann vielleicht frühzeitiger, intensiver und friedensstiftender reagieren zu können.

PROF. HELMUT AUST: Der Hoffnung würde ich mich anschließen.

DR. CARL-WENDELIN NEUBERT: Lieber Helmut, vielen Dank für deine Zeit und das aufschlussreiche Gespräch.

PROF. HELMUT AUST: Vielen Dank für die Einladung und hoffen wir alle das Beste.

Erwähnte Gerichtsentscheidungen

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